Kafka am Strand
ist klug. Deshalb wird sie mir wohl auch keine Fragen stellen, wenn ich ihr morgen in der Bibliothek Grüße von dir bestelle und sage, dass du wegen einer dringenden Angelegenheit eine Weile verreisen musstest. Sie wird nicken und die Sache ohne weitere Erklärung schweigend akzeptieren.«
Ich nicke.
»Aber du würdest sie gern sehen, nicht wahr?«
Darauf sage ich nichts, weil ich nicht weiß, wie ich mich ausdrücken soll. Aber die Antwort ist klar.
»Es tut mir leid für dich, aber ich bin, wie gesagt, dafür, dass ihr euch eine Zeit lang nicht seht«, sagt Oshima.
»Aber vielleicht sehe ich sie so überhaupt nie wieder.«
»Das könnte passieren«, bestätigt Oshima, nachdem er einen Moment nachgedacht hat. »Es klingt platt, aber was geschehen wird, weiß man erst, wenn es wirklich geschehen ist. Mitunter sind die Dinge nicht so, wie sie scheinen.«
»Was Saeki-san wohl empfindet?«
Oshima sieht mich nachdenklich an. »In welcher Hinsicht?«
»Also … wenn sie wüsste, dass sie mich vielleicht nie mehr sieht, ob sie dann das Gleiche empfände wie ich jetzt?«
Oshima lächelt. »Warum fragst du das mich?«
»Weil ich überhaupt keine Ahnung habe. Weil ich bisher noch nie jemanden so geliebt und so begehrt habe. Und noch nie von jemandem so begehrt worden bin.«
»Und deshalb bist du verwirrt und ratlos?«
Ich nicke. »Genau. Verwirrt und ratlos.«
»Du weißt nicht, ob sie die reinen, starken Gefühle, die du für sie empfindest, auch für dich hegt«, sagt Oshima.
Ich schüttele den Kopf. »Darüber nachzudenken ist eine Qual für mich.«
Eine Weile sieht Oshima wortlos mit zusammengekniffenen Augen zum Wald hinüber. Vögel huschen von Ast zu Ast. Er verschränkt die Arme hinter dem Kopf.
»Ich verstehe sehr gut, was du fühlst«, sagt er. »Doch darüber musst du selbst nachdenken und befinden. Niemand kann das an deiner Stelle tun. So ist es eben mit der Liebe, junger Kafka. Himmelhoch jauchzend bist du allein, zu Tode betrübt bist du auch allein. Dein Körper und dein Herz müssen es ertragen.«
Gegen halb drei steigt Oshima in seinen Wagen und fährt davon.
»Wenn du gut haushaltest, sollten die Lebensmittel für etwa eine Woche reichen. Bis dahin bin ich zurück. Sollte mir etwas dazwischenkommen, sage ich meinem Bruder Bescheid, damit er dir was zu essen bringt. Er wohnt ungefähr eine Stunde von hier entfernt. Ich habe ihm gesagt, dass du hier bist. Also mach dir keine Sorgen. In Ordnung?«
»In Ordnung«, sage ich.
»Und noch mal – pass gut auf, dass du dich nicht im Wald verläufst.«
»Ich passe auf.«
»Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg hat eine Einheit der Kaiserlichen Armee hier ein großes Manöver abgehalten, um sich auf die Kämpfe gegen die Sowjetarmee in Sibirien vorzubereiten. Hab ich dir davon erzählt?«
»Nein.«
»Immer vergesse ich, das Wichtigste zu erzählen.« Oshima tippt sich mit dem Finger an die Schläfe.
»Aber hier sieht es doch gar nicht aus wie in Sibirien.«
»Stimmt. Das hier ist Laubwald, während in Sibirien vornehmlich Nadelwald wächst. Aber mit solchen Kleinigkeiten hielten die Militärs sich nicht auf. Hauptsächlich ging es darum, in voller Montur durch den Wald zu marschieren, um für den Krieg fit zu sein.«
Er gießt sich aus der Thermosflasche einen Becher von dem Kaffee ein, den ich gekocht habe, streut ein paar Krümel Zucker hinein und trinkt genüsslich.
»Auf Verlangen der Armee hat mein Urgroßvater ihnen den Berg geliehen. ›Bitte, bitte verfügen Sie frei über den Berg. Wir haben ja keine Verwendung dafür.‹ In dem Stil. Die Einheiten marschierten den Weg hinauf, den wir mit dem Auto gekommen sind. Dann drangen sie in den Wald vor. Aber als das Manöver nach einigen Tagen beendet war und zum Appell gerufen wurde, fehlten zwei Soldaten. Sie waren mitsamt ihrer Ausrüstung im Wald verschwunden. Beide waren frisch eingezogene Rekruten. Trotz der riesigen Suchaktion, die die Armee natürlich durchführte, wurden die beiden nie gefunden.«
Oshima nimmt noch einen Schluck Kaffee.
»Ob sie sich im Wald verlaufen hatten oder desertiert waren, weiß man bis heute nicht. Immerhin ist der Wald hier sehr tief, und man kann fast nichts Essbares finden.«
Ich nicke.
»Neben der Welt, in der wir leben, existiert stets noch eine andere, die wir bis zu einem gewissen Punkt betreten und aus der wir dennoch wieder heil zurückgelangen können. Wenn wir vorsichtig genug sind. Doch wenn eine bestimmte Grenze überschritten ist, gibt es
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