Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
dass sie länger blieben. Die Komuras sind eine jener traditionsbewussten Familien, die für Kunst und Literatur großzügig Geld ausgeben. In solchen Familien bringt gewöhnlich irgendwann eine Generation das Vermögen durch, aber glücklicherweise war das bei den Komuras nicht so. Steckenpferd blieb Steckenpferd, und der Familienbetrieb wurde deswegen nicht vernachlässigt.«
    »Also sind sie reich«, sage ich.
    »Sehr.« Er kräuselt leicht die Lippen. »Nicht mehr ganz so reich wie vor dem Krieg, aber es genügt noch. Deshalb können sie auch diese prachtvolle Bibliothek unterhalten. Natürlich dient die Stiftung auch dazu, die Erbschaftssteuer zu verringern, aber das steht auf einem anderen Blatt. Übrigens, wenn Sie sich für die Geschichte des Gebäudes interessieren, können Sie heute um zwei an einer kleinen Führung teilnehmen. Sie findet einmal wöchentlich dienstags statt, und zufällig ist heute Dienstag. Im ersten Stock gibt es eine seltene Antiquitätensammlung, und da das Haus auch architektonisch hochinteressant ist, kann es nicht schaden, es sich einmal anzusehen.«
    Ich bedanke mich.
    »Bitte schön«, sagt er und lächelt. Dann nimmt er seinen Bleistift wieder in die Hand und klopft mit der Radiergummiseite auf den Tisch. Ganz leicht, wie um mir Mut zu machen.
    »Machen Sie die Führung?«
    Oshima lächelt. »Ich bin nur die Hilfskraft. Die verantwortliche Dame hier heißt Saeki. Im Grunde ist sie die Chefin. Sie gehört einem Zweig der Familie Komura an und macht die Führungen. Sie ist reizend und wird Ihnen bestimmt gefallen.«
     
    Ich betrete den weitläufigen hohen Bibliotheksraum und schlendere auf der Suche nach einem Buch, das mein Interesse weckt, zwischen den Regalen umher. An der Decke verlaufen mehrere eindrucksvolle dicke Balken. Die Strahlen der ersten Sommersonne scheinen durch die Fenster. Sie sind geöffnet, sodass man die Vögel im Garten zwitschern hört. In den Regalen stehen, wie Oshima gesagt hat, meist Bücher, die mit Tanka- und Haiku-Dichtern zu tun haben – Anthologien, literaturwissenschaftliche Werke und Biografien. Auch zahlreiche Werke über die lokale Geschichte von Shikoku sind darunter.
    In den Regalen weiter zur Mitte stehen Bücher zur allgemeinen Geistesgeschichte, Gesamtausgaben der japanischen Literatur und der Weltliteratur, gesammelte Werke einzelner Autoren, Klassiker, Philosophie, Musik, Kunst allgemein, Drama, Gesellschaftswissenschaften, Geschichte, Biografien, Geografie … Den Seiten der meisten Bücher entströmt, wenn ich sie aufschlage, der Geruch vergangener Zeiten, der eigentümliche Duft profunden Wissens und starker Gefühle, die lange ungestört zwischen den Buchdeckeln geschlummert haben. Diesen Geruch atme ich tief ein, lasse meinen Blick über die Seiten schweifen und stelle das Buch dann zurück ins Regal.
    Schließlich wähle ich aus einer schönen mehrbändigen Burton-Ausgabe der Märchen aus 1001 Nacht einen Band aus und nehme ihn mit in den Lesesaal. Lange schon habe ich mir gewünscht, einmal darin zu lesen. Da die Bibliothek gerade erst geöffnet hat, habe ich den eleganten Lesesaal ganz für mich. Er sieht genauso aus wie auf dem Foto in der Zeitschrift. Die Decke ist hoch, der Raum weit und luftig, aber er strahlt auch Wärme aus. Durch die geöffneten Fenster weht hin und wieder eine Brise. Lautlos bauschen sich die weißen Vorhänge, wenn der Wind den Geruch des Meeres hereinträgt. Die Bequemlichkeit der Sessel lässt nichts zu wünschen übrig. In einer Ecke des Raumes steht ein altes Klavier, das in mir das Gefühl erweckt, zu Gast im Haus eines vertrauten Menschen zu sein.
    Ich setze mich in einen der Sessel, und als ich mich umschaue, spüre ich, dass dieser Raum der Ort ist, nach dem ich so lange gesucht habe. Genau diesen Platz, diesen versteckten Winkel der Welt, habe ich gesucht. Bisher hat er nur in meiner geheimen Fantasie existiert, und ich kann es noch kaum fassen, dass es ihn tatsächlich gibt. Als ich die Augen schließe und einatme, lässt er sich in mir nieder wie eine sanfte Wolke. Ein wunderbares Gefühl. Langsam streiche ich mit der Handfläche über den cremefarbenen Bezug des Sessels. Ich stehe auf, gehe zum Klavier hinüber, öffne den Deckel und lege meine Finger sacht auf die leicht gelbliche Klaviatur. Ich schließe den Deckel und laufe auf dem alten Teppich mit Weintraubenmuster umher, drehe an den altmodischen Griffen zum Öffnen und Schließen der Fenster, knipse eine Stehlampe an und aus und

Weitere Kostenlose Bücher