Kafka am Strand
betrachte der Reihe nach die Bilder an den Wänden. Schließlich setze ich mich wieder in den Sessel und konzentriere mich ganz auf meine Lektüre.
Um die Mittagszeit hole ich Mineralwasser und Proviant aus meinem Rucksack, setze mich auf die Veranda zum Garten und verzehre mein Mittagessen. Allerlei Vögel huschen von Baum zu Baum, lassen sich am Teich nieder, trinken und putzen sich. Einige Arten habe ich noch nie gesehen. Als ein großer brauner Kater auftaucht, fliegen die Vögel hastig auf, obwohl der Kater ihnen keine Beachtung schenkt. Ihm scheint der Sinn einzig nach einem faulen Sonnenbad auf den Steinen zu stehen.
»Hast du heute schulfrei?«, fragt Oshima mich, als ich meinen Rucksack wieder abgebe, um in den Lesesaal zurückzukehren.
»Nein, eigentlich nicht, aber ich habe mir selbst ein bisschen freigegeben.« Ich bediene mich einer vorsichtigen Wortwahl.
»Schulverweigerung«, sagt er.
»Vielleicht.«
Oshima schaut mich interessiert an. »Vielleicht?«
»Eigentlich weigere ich mich nicht, ich habe nur beschlossen, nicht mehr hinzugehen«, sage ich.
»Du hast also in aller Ruhe und spontan aufgehört zur Schule zu gehen?«
Ich nicke bloß. Was sollte ich auch antworten?
»Nach Aristophanes in Platons Gastmahl gab es früher drei Geschlechter von Menschen«, sagt Oshima. »Kennst du die Geschichte?«
»Nein.«
»In alter Zeit gab es nicht nur ein mannmännliches und ein weibweibliches Geschlecht, sondern auch ein mannweibliches. Alle Menschen bestanden aus jeweils zwei Teilen. Und alle lebten unbekümmert und zufrieden. Dann freilich nahmen die Götter ein Messer und schnitten sie in zwei Hälften. Säuberlich wie Früchte. Seitdem gibt es Frauen und Männer auf der Welt, und die Menschen irren ständig auf der Suche nach ihrer anderen Hälfte durchs Leben.«
»Warum haben die Götter das getan?«
»Die Menschen in zwei Hälften geteilt? Weiß ich auch nicht. Was die Götter tun, ist meistens unverständlich. Sie sind launisch und haben – wie soll man sagen – eine Neigung zum Idealismus. Vielleicht sollte es eine Strafe sein, so wie bei Adam und Eva in der Bibel, als sie aus dem Paradies verjagt wurden.«
»Wegen der Erbsünde«, sage ich.
»Genau. Die Erbsünde«, sagt Oshima.
Er klemmt sich den langen Bleistift zwischen Mittel- und Zeigefinger und lässt ihn langsam hin- und herschwingen. »Ich wollte damit nur sagen, dass es schwer für einen Menschen ist, ganz allein zu leben.«
Ich gehe in den Lesesaal zurück und lese weiter in der »Geschichte von Abu El-Hasan dem Schalk«, aber so richtig kann ich mich nicht mehr darauf konzentrieren. Männlich, mannweiblich und weiblich?
Um zwei unterbreche ich meine Lektüre, stehe auf und nehme an der Führung durch das Gebäude teil. Frau Saeki, die die Führung macht, ist eine schlanke Dame von etwa Mitte fünfzig. Für ihre Generation ist sie wohl eher groß. Sie trägt ein blaues Kleid mit kurzen Ärmeln und darüber eine dünne cremefarbene Strickjacke. Sie hält sich sehr gerade. Ihre Haare sind lang und lose im Nacken zusammengebunden. Sie hat ein vornehmes, intelligentes Gesicht. Und schöne Augen. Um ihre Mundwinkel spielt wie ein ständiger Schatten ein leichtes Lächeln. Ich kann es nicht gut beschreiben, aber es wirkt irgendwie vollkommen und erinnert mich an ein sonniges Plätzchen, wie es nur an einem verborgenen Ort entsteht. Im Garten unseres Hauses in Nogata gibt es ein solches sonniges Plätzchen. Schon als Kind habe ich diesen Fleck geliebt.
Sie macht auf mich einen sehr starken, aber auch wehmütig-vertrauten Eindruck. Wie schön, denke ich, wenn sie meine Mutter wäre. Das denke ich immer, wenn ich eine gut aussehende (oder sympathische) Frau mittleren Alters sehe. Wie schön, wenn sie meine Mutter wäre. Selbstverständlich geht die Wahrscheinlichkeit, dass Frau Saeki meine Mutter ist, gegen null. Aber theoretisch besteht zumindest eine winzige Chance, da ich ja nicht weiß, wie meine Mutter aussieht, und nicht einmal ihren Namen kenne. Also gibt es keinerlei Grund, dass Frau Saeki nicht meine Mutter sein könnte.
Außer mir nimmt noch ein Ehepaar in mittleren Jahren aus Osaka an der Führung teil. Die Frau ist klein und stämmig und trägt eine dicke Brille. Der Mann ist mager, und seine Frisur macht den Eindruck, als habe er versucht, das struppige Haar mit einer Drahtbürste zu bändigen, allerdings vergeblich. Seine Augen sind schmal, und er hat eine breite Stirn. Er erinnert mich an diese Statuen aus der
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