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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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alte Vorhang sich hin und wieder blähte. Er bewegte sich bedeutungsvoll, wie eine Allegorie. Sie trug ein langes blaues Kleid, das sie vor langer Zeit einmal irgendwo getragen hatte. Der Saum raschelte ganz leicht, wenn sie ging. Vor dem Fenster lag der Strand. Sie hörte die Wellen rauschen. Und jemandes Stimme. Der Wind roch nach Salz. Es war Sommer. Es war immer Sommer. Am Himmel schwebten scharf umrissene, kleine weiße Wolken.
     
    Nakata nahm die drei dicken Ordner und ging damit die Treppe hinunter. Oshima saß an der Theke und sprach mit einem Besucher. Als er Nakata die Treppe herunterkommen sah, lächelte er freundlich. Dieser reagierte mit einer pflichteifrigen Verbeugung. Oshima nahm sein Gespräch wieder auf. Hoshino war im Lesesaal eifrig in seine Lektüre vertieft.
    »Herr Hoshino«, sagte Nakata.
    Hoshino legte sein Buch auf den Tisch und schaute zu Nakata auf.
    »He, das hat ja ganz schön gedauert. Konntest du deine Aufgabe erledigen?«
    »Jawohl. Alles erledigt. Wenn Sie so weit sind, können wir allmählich nach Hause gehen.«
    »Ja, von mir aus. Ich hab das Buch einigermaßen durch. Beethoven ist schon gestorben und wird gerade beerdigt. Es gab eine prächtige Beerdigung. Fünfundzwanzigtausend Wiener gaben ihm das Geleit. Sogar die Schulen waren geschlossen.«
    »Herr Hoshino?«
    »Was ist?«
    »Nakata hat noch eine Bitte.«
    »Sag schon.«
    »Wir müssen das hier verbrennen.«
    Hoshino schaute auf die Ordner, die Nakata im Arm hielt. »Hm, eine ganze Menge Zeug. So viel Papier kann man nicht einfach irgendwo abfackeln. Was wir brauchen, ist ein Flussufer.«
    »Herr Hoshino?«
    »Was ist?«
    »Kommen Sie. Ein Flussufer suchen.«
    »Vielleicht ist es blöd, wenn ich noch mal nachfrage, aber ist es denn so wichtig, dass wir es nicht einfach irgendwo hier wegschmeißen können?«
    »Jawohl, Herr Hoshino, es ist sehr wichtig. Wir müssen es unbedingt verbrennen. Wir müssen sehen, wie der Rauch zum Himmel steigt, um ganz sicher zu sein.«
    Hoshino stand auf und streckte sich gründlich.
    »Schon kapiert. Also suchen wir beide uns jetzt ein schönes, breites Flussufer. Ich weiß zwar nicht, wo es eins gibt, aber wenn wir langsam und gründlich suchen, finden wir bestimmt eins.«
     
    An diesem Nachmittag ging es in der Bibliothek so lebhaft zu wie schon lange nicht. Ein große Anzahl Besucher traf ein, von denen viele fachliche Fragen stellten. Oshima kam mit den Antworten und der Suche nach den gewünschten Materialien kaum nach. Er musste auch einiges im Computer nachschauen. Normalerweise hätte er Frau Saeki um Unterstützung gebeten, aber heute schien das nicht zu gehen. Mehrmals verließ er seinen Platz, um nachzusehen, ob Nakata noch nicht zurück sei. Als der Betrieb etwas nachließ, er sich umschaute und begriff, dass die beiden Männer die Bibliothek bereits verlassen hatten, ging Oshima hinauf in den ersten Stock zu Frau Saekis Büro. Die Tür war ausnahmsweise geschlossen. Er klopfte zweimal kurz und wartete einen Moment. Aber es kam keine Antwort. Er klopfte noch einmal. »Saeki-san«, rief er von außen durch die Tür. »Ist alles in Ordnung?«
    Wieder keine Antwort. Sachte drehte er den Türknauf. Es war nicht abgeschlossen. Oshima öffnete die Tür einen Spalt und spähte ins Zimmer. Er sah Frau Saeki vornübergebeugt auf dem Schreibtisch liegen. Ihr Haar war nach vorne gefallen und bedeckte ihr Gesicht. Oshima wunderte sich ein wenig. Vielleicht war sie nur müde und schlief, obwohl er es bisher noch nie erlebt hatte, dass sie ein Nickerchen machte. Sie war nicht der Typ, der bei der Arbeit einschlief. Er trat ein und ging zum Schreibtisch, beugte sich vor und rief ihr ihren Namen ins Ohr. Keine Reaktion. Er berührte sie an der Schulter, dann nahm er ihr Handgelenk und legte die Finger darauf. Kein Pulsschlag. Ihre Haut sonderte noch eine leichte Wärme ab, doch sie fühlte sich entsetzlich nichtssagend und distanziert an.
    Er hob ihr Haar an und sah prüfend in ihr Gesicht. Beide Augen waren leicht geöffnet. Sie schlief nicht. Sie war tot. Aber auf ihrem Gesicht lag der Ausdruck eines Menschen, der einen heiteren Traum hat. Ihre Lippen lächelten eine Spur. Auch im Tod hat sie ihre Anmut nicht verloren, dachte Oshima. Er ließ ihr Haar zurückfallen und griff nach dem Telefon auf dem Schreibtisch.
    Er hatte damit gerechnet, dass dieser Tag bevorstand. Aber jetzt, wo er in der Stille des Büros mit der Toten allein war, wusste er nicht, was er tun sollte. Sein Herz fühlte sich

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