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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Junge namens Krähe von hinten an. »In Wahrheit hat sie dich sogar sehr geliebt. Das musst du zunächst einmal glauben. Das ist der Ausgangspunkt.«
    »Aber sie hat mich verlassen. Sie hat mich allein am falschen Ort zurückgelassen und ist verschwunden. Damit hat sie mich zutiefst verletzt, und ich habe Schaden genommen, das weiß ich jetzt. Wie konnte sie das tun, wenn sie mich wirklich geliebt hat?«
    »Bestimmt war es eine Folge davon«, sagt Krähe, »dass du tief verletzt wurdest und Schaden genommen hast. Und nun die ganze Zeit diese Verletzung mit dir herumschleppst. Das tut mir auch wirklich leid für dich. Aber sieh es doch einmal so: Du kannst es nicht mehr rückgängig machen. Du bist jung und stark. Und biegsam und geschmeidig bist du auch. Du kannst die Wunde schließen, dich aufrichten und vorwärts gehen. Aber sie kann das nicht mehr. Für sie bleibt nur der Verlust. Wer gut ist und wer böse, ist hier nicht die Frage. Heute bist du derjenige, der im Vorteil ist. Daran solltest du denken.«
    Ich schweige.
    »Es ist doch schon passiert«, fährt Krähe fort. »Was geschehen ist, ist geschehen. Natürlich hätte sie dich damals nicht verlassen dürfen. Aber mit Vergangenem ist es wie mit zerbrochenem Geschirr. Es gibt kein Mittel, es wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen. Stimmt’s?«
    Ich nicke. Es gibt kein Mittel, es wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen. Ganz genauso ist es.
    »Deine Mutter«, sagt Krähe weiter, »verspürte große Angst und heftigen Zorn in sich, genau wie du jetzt. Deshalb konnte sie damals nicht anders. Sie musste dich verlassen.«
    »Obwohl sie mich geliebt hat?«
    »Ja doch«, sagt Krähe. »Auch wenn sie dich geliebt hat, musste sie dich verlassen. Und du musst sie verstehen und es akzeptieren. Und nicht in ihre Fußstapfen treten und das Ganze wiederholen. Du musst ihr verzeihen. Natürlich ist das nicht ganz einfach. Aber du musst. Es ist deine einzige Rettung. Eine andere Rettung gibt es nicht.«
    Ich denke nach, aber je mehr ich nachdenke, desto verwirrter werde ich. Ich bin innerlich aufgelöst, und meine Haut schmerzt an einigen Stellen, als würde sie mir abgezogen.
    »Ist Saeki-san denn wirklich meine Mutter?«, frage ich.
    »Gesagt hat sie das ja nicht«, erwidert Krähe. »Das Ganze läuft also noch unter Hypothese, nicht wahr? Im Moment kann ich es nur als Hypothese bezeichnen.«
    »Eine Hypothese, für die sich noch keine gültige Gegenthese gefunden hat.«
    »Richtig«, sagt Krähe.
    »Und dieser Gegenthese muss ich ernsthaft und bis zuletzt nachspüren.«
    »Ganz recht«, sagt Krähe entschieden. »Es lohnt sich, einer Hypothese nachzugehen, für die es keine gültige Gegenthese gibt. Etwas anderes kannst du nicht tun. Du hast keine andere Wahl, als dieser Hypothese bis zum bitteren Ende, sogar bis zur Selbstaufgabe, zu folgen.«
    » Sogar bis zur Selbstaufgabe? « Die Worte haben einen seltsamen Klang. Ich kann sie nicht richtig schlucken.
    Es kommt jedoch keine Antwort. Ich werde unsicher und drehe mich um. Krähe ist noch da. Er geht im gleichen Tempo unmittelbar hinter mir.
    »Was für eine Angst und was für einen Zorn hat Saeki-san damals wohl gehabt? Und woher kam das?«, frage ich ihn, während ich weiter ausschreite, nach vorn gewandt.
    »Was glaubst denn du, was für eine Angst und was für ein Zorn das war?«, wirft Krähe mir die Frage zurück. »Denk mal gut nach. Es bleibt dir nichts anderes übrig, als dir selbst den Kopf darüber zu zerbrechen. Dafür hast du ihn doch.«
    Ich überlege. Ich muss es verstehen und akzeptieren, bevor es zu spät ist. Doch ich kann die kleinen Zeichen an den Ufern meines Bewusstseins noch nicht entziffern. Die Intervalle zwischen den heranrollenden und zurückflutenden Wellen sind entsetzlich kurz.
    »Ich bin in Saeki-san verliebt«, sage ich. Die Wort kommen mir ganz selbstverständlich über die Lippen.
    »Ich weiß«, sagt Krähe unwirsch.
    »Ein solches Gefühl habe ich bisher nicht gekannt. Und im Moment bedeutet es mir mehr als alles andere«, sage ich.
    »Natürlich«, sagt Krähe. »Das brauchst du mir nicht zu erzählen. Natürlich bedeutet es dir viel. Wärst du sonst hierher gekommen?«
    »Aber, weißt du, ich begreife die ganze Sache noch immer nicht. Ich bin völlig ratlos. Du sagst, meine Mutter hat mich geliebt. Sehr tief geliebt. Ich möchte dir das glauben. Aber selbst wenn es so war, verstehe ich es nicht. Wie kann es sein, dass man jemanden so sehr liebt und ihn

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