Kafka am Strand
wie verdorrt an. Ich habe sie gebraucht, dachte Oshima. Vielleicht habe ich ihre Existenz gebraucht, um die Leere in mir auszufüllen. Aber die Leere, in der sie lebte, konnte niemand füllen. Die war allein ihre Sache, bis zum Schluss.
Von unten rief jemand seinen Namen. Zumindest kam es ihm so vor, als hätte er eine Stimme gehört. Die Tür war nur angelehnt, und aus dem unteren Stockwerk tönten die Geräusche geschäftigen Kommens und Gehens herauf. Auch das Telefon klingelte. Aber Oshima ignorierte alles. Er setzte sich und betrachtete sie. Sollten sie ihn doch rufen, sooft sie wollten; sollte das Telefon doch klingeln. Bald ertönte in der ferne die Sirene eines Rettungswagens. Sie kam allmählich näher. Gleich würden Leute kommen und Saeki-san fortbringen. Für immer. Er hob den linken Arm und sah auf die Uhr. Es war 4 Uhr 35.
Dienstagnachmittag, 4 Uhr 35. Diesen Zeitpunkt musste er sich merken. Diesen Tag, diesen Nachmittag durfte er nie vergessen.
»Kafka Tamura«, flüsterte er zur Wand hin, »Ich muss es dir sagen. Natürlich nur, falls du es noch nicht weißt.«
43
Nachdem ich mich meiner Ausrüstung entledigt habe, gehe ich nunmehr unbelastet durch den Wald. Ich konzentriere mich nur darauf, voranzukommen. Es ist nicht mehr nötig, die Bäume zu markieren. Nicht mehr nötig, sich den Rückweg zu merken. Ich gebe es sogar auf, mir die Umgebung genau anzuschauen. Ihr Anblick ändert sich sowieso kaum: dichte, hoch aufragende Bäume, wuchernde Farne, hängende Efeuranken, knotige Wurzeln, faulendes Laub am Boden, vertrocknete Insektenpanzer. Zähe, klebrige Spinnennetze. Und unzählige Äste, eine wahre Welt von Ästen. Drohende Äste, miteinander verschlungene Äste, sich geschickt verbergende Äste, knorrige Äste, meditierende Äste, welke und abgestorbene Äste. Eine endlos wiederkehrende Szenerie. Nur wird sie im Laufe der Wiederholung ganz allmählich immer dichter.
Den Mund fest geschlossen, folge ich dem Weg – oder dem, was aussieht wie ein Weg. Es geht die ganze Zeit bergauf, aber nicht mehr so steil, dass ich außer Puste gerate. Zuweilen scheint der Weg sich im Meer der Farne oder im dornigen Gestrüpp zu verlieren. Folge ich jedoch meinem Instinkt, finde ich ihn immer wieder. Ich fürchte mich nicht mehr vor dem Wald. Auch hier gibt es so etwas wie Regeln, oder zumindest Regelmäßigkeiten. Seit ich keine Angst mehr habe, werden sie mir allmählich offenbar. Ich nehme die ewige Wiederkehr darin in mich auf und werde selbst ein Teil von ihr.
Ich habe nichts mehr. Weder die Spraydose mit der gelben Farbe, mit der ich noch vor kurzem so sorgfältig umgegangen bin, noch das frisch geschärfte Beil. Auch der Rucksack ist weg, mit ihm Wasserflasche und Proviant. Kein Kompass. Alles habe ich unterwegs nacheinander zurückgelassen. Damit versuche ich dem Wald sichtbar zu vermitteln, dass ich mich nicht fürchte und dass meine Wehrlosigkeit frei gewählt ist. Vielleicht auch mir selbst. Nachdem ich meinen harten Panzer abgeworfen habe, mache ich mich nackt auf den Weg ins Innere des Labyrinths, um mich der Leere, die dort herrscht, zu überlassen.
Plötzlich erstirbt die Musik, die die ganze Zeit in meinen Ohren erklang. Nur ein schwaches weißes Rauschen bleibt – weiß und straff wie ein Laken, das über ein großes breites Bett gespannt ist. Ich lege die Fingerspitzen darauf und spüre seiner Weiße nach. Sie erstreckt sich endlos. Mir bricht der Schweiß unter den Achseln aus. Der Himmel, der hier und dort durch die hohen Äste der Bäume schimmert, ist gleichmäßig und lückenlos von grauen Wolken überzogen. Es sieht jedoch noch nicht nach Regen aus. Die Wolken bewegen sich nicht; alles steht still. Die Vögel in den hohen Zweigen stoßen kurze, bedeutungsvolle Warnrufe aus. Insekten sirren ahnungsvoll im Gras.
Ich denke an das nun unbewohnte Haus in Nogata. Vermutlich hat man es versiegelt. Meinetwegen kann es versiegelt bleiben. Das Blut, das dort versickert ist, kann von mir aus auch dort bleiben. Mir doch egal. Ich habe nicht vor, dorthin zurückzukehren. Schon vor der jüngsten Bluttat ist in dem Haus vieles gestorben. Nein , getötet worden.
Der Wald bedroht mich bald von oben, bald vom Boden her. Ich spüre einen kalten Hauch im Nacken. Ich spüre etwas wie tausend Nadelstiche auf der Haut. Der Wald versucht auf verschiedene Weise, den Fremdkörper abzustoßen. Doch mit der Zeit bin ich imstande, seine Drohungen an mir abprallen zu lassen, und gelange zu der Einsicht, dass
Weitere Kostenlose Bücher