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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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dieser Wald letzten Endes ein Teil von mir ist. Ich bin auf einer Reise durch mein eigenes Inneres. Wie Blut, das durch Adern fließt. Was ich im Wald sehe, ist in mir selbst, und was ich als Bedrohung wahrnehme, ist das Echo der Angst in meinem Herzen. Die Spinnengewebe im Wald sind die Spinnengewebe in meinem Herzen. Die rufenden Vögel über mir sind die Vögel, die ich in mir selbst herangezogen habe. Solche Bilder entstehen in mir und fassen Wurzeln.
    Wie von einem gewaltigen Herzklopfen angetrieben, haste ich den Waldweg entlang, der zu einem besonderen Ort in mir selbst führt – zum Born der Dunkelheit mit seinen tonlosen Klängen. Ich will mich überzeugen, was dort ist. Ich bin der geheime Bote, der mir selbst einen fest versiegelten, wichtigen Brief in meiner eigenen Handschrift überbringt.
    Frage.
    Warum hat sie mich nicht geliebt?
     
    WARUM habe ich nicht die fähigkeit besessen, von meiner mutter geliebt zu WERDEN?
    Seit vielen Jahren brennt diese Frage in meinem Herzen und nagt an meiner Seele. Muss es nicht an mir liegen, wenn ich von meiner Mutter nicht geliebt worden bin? Bin ich nicht ein Mensch, an dem von Geburt an ein Makel haftet? Ein Mensch, der dazu geboren ist, dass andere die Augen von ihm abwenden?
    Bevor meine Mutter fortgegangen ist, hat sie mich nicht einmal in die Arme geschlossen. Nicht ein Wort hat sie mir zurückgelassen. Sie hat sich von mir abgewandt und ist ohne ein Wort mit meiner Schwester von zu Hause fortgegangen. Lautlos wie Rauch ist sie aus meinem Blickfeld verschwunden, hat ihr Gesicht abgewandt und es mir für immer genommen.
    Wieder stößt über mir ein Vogel einen schrillen Schrei aus. Ich sehe zum Himmel, an dem ausdruckslos die grauen Wolken stehen. Kein Wind. Ich gehe immer weiter. Gehe an den Ufern meines Bewusstseins entlang. Wie Wellen rollt es heran und flutet wieder zurück. Eine Welle kommt und hinterlässt ein Schriftzeichen, das die nächste jedoch sofort wieder löscht. Hastig versuche ich, in den Abständen zwischen den Wellen die Zeichen zu lesen, doch das ist nicht leicht. Letztlich wird jedes Wort, ehe ich es zu lesen vermag, von der nächsten Woge überspült. Mehr als rätselhafte Wortfetzen lässt mein Bewusstsein nicht zurück.
    Und wieder zieht es mein Herz zu dem Haus in Nogata. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem meine Mutter und meine Schwester fortgingen. Ich sitze allein auf der Veranda und schaue in den Garten. Es ist ein Nachmittag im Frühsommer, und die Schatten der Bäume sind lang. Im Haus bin nur ich. Keine Ahnung wieso, aber ich weiß, dass ich verstoßen und allein zurückgelassen wurde. Und ich begreife, dass dieses Ereignis später einen schwerwiegenden Einfluss auf mich haben wird. Niemand muss es mir sagen. Ich weiß es einfach. Das Haus ist menschenleer wie ein aufgegebener Grenzposten in einer abgelegenen Gegend. Die Sonne neigt sich gen Westen, und ich beobachte, wie die Welt langsam im Schatten der Dinge versinkt. In einer Welt, in der die Zeit regiert, lässt sich nichts rückgängig machen. Stück für Stück erobern die Schatten neues Gebiet, fressen sich hinein, bis ihr dunkles, kaltes Reich das Gesicht meiner Mutter, das eben noch da gewesen ist, verschlungen hat. Ihr Gesicht wird als etwas strikt Abgewandtes unwiederbringlich aus meinem Gedächtnis geraubt und getilgt.
    Während ich durch den Wald gehe, denke ich an Saeki-san. Ich rufe mir ihr Gesicht ins Gedächtnis, ihr stilles, leichtes Lächeln und die Wärme ihrer Hände. Ich stelle mir vor, dass sie die Mutter ist, die mich, als ich gerade vier Jahre alt war, verlassen hat. Unwillkürlich schüttle ich den Kopf. Es erscheint mir als unwahrscheinlich und nicht zu ihr passend. Warum hat sie das tun müssen? Warum hat sie mir das angetan und mein Leben ruiniert? Es muss einen triftigen, bedeutenden Grund dafür geben, einen Grund, der sich mir bisher nicht offenbart hat.
    Ich versuche mich in ihre damalige Gefühlslage zu versetzen. Ihren Standpunkt einzunehmen. Das ist natürlich nicht einfach. Immerhin bin ich derjenige, der verlassen wurde, und sie ist die, die mich verlassen hat. Dennoch löse ich mich langsam von meiner Person. Meine Seele streift die steife Hülle meines Ichs ab und wird zu einer schwarzen Krähe, die auf einem Kiefernast sitzt und von dort den vierjährigen Knaben auf der Veranda beobachtet.
    Ich werde zur schwarzen Krähe, die Vermutungen anstellt.
    »Es stimmt nicht, dass deine Mutter dich nicht geliebt hat«, spricht mich der

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