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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Nachrichten zu Ende waren, schaltete er den Fernseher ab. Die Stimme des Ansagers ging ihm gewaltig auf die Nerven. Draußen wurde es allmählich dunkler, bis schließlich die Nacht hereinbrach und die Wohnung in noch tiefere Stille hüllte.
    »Tja, alter Freund«, sagte Hoshino zu Nakata. »Wär schön, wenn du einen Moment aufwachen könntest. Ich bin so ziemlich am Ende meiner Weisheit. Außerdem würde ich gern deine Stimme hören.«
    Nakata antwortete natürlich nicht. Er befand sich noch immer auf der anderen Seite der Wasserscheide. Er blieb stumm und war weiter tot. Die Stille war so tief, dass man, wenn man die Ohren spitzte, sogar hören konnte, wie die Erde sich drehte.
    Hoshino ging ins Wohnzimmer und legte das »Erzherzog-Trio« auf. Als er das Thema des ersten Satzes hörte, stürzten ihm unvermittelt Tränen aus den Augen. Sehr viele Tränen. Du meine Güte, dachte Hoshino, wann hab ich denn das letzte Mal geheult? Er konnte sich nicht erinnern.

45
    Der Weg hinter dem »Eingang« ist in der Tat schwer zu finden. Das heißt, er ist eigentlich überhaupt kein Weg mehr. Der Wald wird immer dichter, tiefer und gewaltiger. Es geht nur noch steil bergauf. Die Erde ist von undurchdringlichem Gestrüpp überwachsen. Der Himmel ist beinahe verschwunden, und es ist so dunkel, als wäre es schon Abend. Die Spinnengewebe werden mehr, der Geruch der Pflanzen wird immer intensiver. Es herrscht eine drückende Stille. Voll Ingrimm wehrt sich der Wald gegen das Eindringen von Menschen. Aber die Soldaten schlüpfen, ihre Gewehre schräg geschultert, mühelos durch seine Lücken. Die beiden legen ein erstaunliches Tempo vor. Sie ducken sich unter herabhängenden Ästen hindurch, krabbeln über Felsen, springen über Löcher und teilen geschickt das dornige Gestrüpp.
    Um sie nicht aus den Augen zu verlieren, muss ich um jeden Preis hinter ihnen bleiben. Nicht ein einziges Mal vergewissern sie sich, ob ich ihnen noch folgen kann. Es ist, als stellten sie meine Kraft auf die Probe, als prüften sie, wie lange ich durchhalten würde. Oder sogar, als wären sie auf mich wütend (obwohl ich mir nicht vorstellen kann, weshalb). Sie sprechen kein Wort, weder zu mir noch untereinander. Zielstrebig marschieren sie voran. Ohne dass sie sich darüber verständigen, geht immer abwechselnd einer vorn, der andere hinten. Vor mir pendeln die schwarzen Gewehrläufe auf ihren Rücken rhythmisch von rechts nach links, wie Metronome. Beinahe habe ich das Gefühl, allmählich hypnotisiert zu werden. Ich schalte mein Bewusstsein ab und bewege mich voran, als glitte ich über Eis. Einzig darauf konzentriert, mit ihnen Schritt zu halten, marschiere ich schwitzend und stumm hinter ihnen her.
    Endlich dreht sich der Kräftige um. »Gehen wir dir zu schnell?« Es klingt nicht, als ob er außer Atem wäre.
    »Nein«, sage ich. »Es geht schon. Ich komme mit.«
    »Du bist jung, das hilft«, sagt der größere Soldat, ohne sich umzuwenden.
    »Wir sind es gewöhnt, diese Strecke zu gehen. Deshalb sind wir so schnell«, sagt der Kräftige wie zur Entschuldigung. »Sag Bescheid, wenn’s dir zu schnell geht. Nur keine Hemmungen. Dann machen wir ein bisschen langsamer. Wir wollen nur nicht unnötig trödeln. Verstehst du?«
    »Wenn ich nicht mehr mitkomme, sage ich es«, erwidere ich, wobei ich mich bemühe, normal zu atmen, denn ich will meine Anstrengung vor ihnen verbergen. »Ist es noch weit?«
    »Nicht mehr so weit«, sagt der Lange.
    »Nur noch ein Stückchen«, sagt der andere.
    Irgendwie habe ich jedoch den Verdacht, dass ich auf die Ansicht der beiden nicht viel geben kann. Sie haben es ja selbst gesagt: Zeit ist hier kein wichtiger Faktor.
    Eine Weile marschieren die beiden schweigend weiter. Aber ihr Tempo ist nicht mehr so mörderisch wie zuvor. Anscheinend ist der Test beendet.
    »Gibt es in dem Wald hier giftige Schlangen?« Die Frage beschäftigt mich seit einiger Zeit.
    »Giftschlangen, hm«, sagt der große Soldat mit der Brille und kehrt mir weiter den Rücken zu. Er redet meist mit nach vorne gewandtem Blick, als könnte ihm jeden Augenblick etwas von Bedeutung in den Weg springen. »Darüber habe ich noch nie nachgedacht.«
    »Kann schon sein.« Der Kräftige dreht sich um. »Ich kann mich nicht erinnern, je eine gesehen zu haben. Geben könnte es trotzdem welche, aber selbst wenn, spielt das für uns keine Rolle.«
    »Damit wollen wir sagen«, erklärt der Lange in sorglosem Ton, »dass nicht die Absicht besteht, dir in diesem

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