Kafka am Strand
Insgesamt ist das Areal nicht so groß, dass man es als »Stadt« bezeichnen könnte. Es gibt weder Geschäfte noch größere öffentliche Gebäude. Ich sehe auch keine Reklametafeln und Schilder. Das Ganze macht auf mich den Eindruck einer willkürlich entstandenen Siedlung aus schlichten Gebäuden von gleicher Größe und Form. Keines der Häuser hat einen Garten, und an den Wegen stehen auch keine Bäume. Offenbar ist der Bedarf an Pflanzen durch den angrenzenden Wald völlig gedeckt.
Ein leichter Wind kommt aus dem Wald und bewegt die Blätter der Bäume, die hier und da um mich herum wachsen. Wie Wind auf dem Sand hinterlässt ihr diffuses Rascheln ein Muster auf der Oberfläche meines Herzens. Ich berühre einen der Stämme mit der Hand und schließe die Augen. Das Muster erscheint mir wie ein Code, dessen Bedeutung ich nicht zu entschlüsseln vermag, wie eine fremde Sprache, von der ich kein Wort verstehe. Resigniert öffne ich die Augen und betrachte noch einmal die fremde Welt, die sich vor mir ausbreitet. Während ich auf halber Höhe am Abhang stehe und mit den beiden Soldaten hinunterstarre, scheint sich das Muster und mit ihm auch der Code in mir zu verändern, und die Metapher wandelt sich.
Ich entferne mich weit von mir selbst, bis ich das Gefühl habe zu schweben. Ich werde zu einem Schmetterling, der am Rande dieser Welt flatternd seine Kreise zieht. An diesem äußeren Rand treffen Leere und Substanz aufeinander. Vergangenheit und Zukunft bilden einen nahtlosen und endlosen Bogen, an dem Zeichen entlangwandern, die noch von niemandem entziffert sind, und Akkorde, die noch keines Menschen Ohr gehört hat.
Ich schöpfe Atem. Mein Herz hat noch nicht wieder zu einer heilen Form gefunden. Doch es ist keine Furcht darin.
Die beiden Soldaten setzen sich wortlos wieder in Bewegung, und ich folge ihnen ebenfalls schweigend. Wir gehen den Hang hinunter und nähern uns der Siedlung. Ein mit einem Mäuerchen eingefasster Bach fließt am Wegrand. Freundliches Murmeln ist zu hören. Das Wasser ist schön und klar. Alles hier ist schlicht und klein, aber fein. In Abständen säumen schlanke, mit elektrischen Leitungen verbundene Strommasten den Weg. Anscheinend gibt es sogar Stromversorgung. Strom? Irgendwie erscheint mir Elektrizität hier fehl am Platz.
Nach allen vier Himmelsrichtungen ist der Ort von hohen Kämmen umschlossen. Noch immer bedeckt eine graue Wolkenschicht den Himmel. Solange die Soldaten und ich den Weg entlanggehen, kommt uns niemand entgegen. Kein Laut ist zu hören, es herrscht absolute Stille. Vielleicht haben die Menschen sich in ihre Häuser zurückgezogen und warten mit angehaltenem Atem, dass wir vorübergehen.
Die beiden Soldaten begleiten mich zu einem der Häuser, das in Größe und Gestalt seltsam Oshimas Hütte gleicht. Man könnte fast meinen, das eine habe dem anderen als Vorbild gedient. Das Haus hat eine Veranda, auf der ein Stuhl steht. Es ist ebenerdig und hat einen Schornstein auf dem Dach. Anders als in Oshimas Hütte sind Schlaf- und Wohnzimmer getrennt. Außerdem gibt es ein Bad und Strom. In der Küche steht ein elektrischer Kühlschrank, ein nicht sehr großes altes Modell von Toshiba. Von der Decke hängt eine Lampe. Ein Fernseher ist auch da. Ein Fernseher?
Im Schlafzimmer steht ein schmuckloses Einzelbett, auf dem Bettzeug bereit liegt.
»Du bleibst erst mal hier, bis du dich ausgeruht hast«, sagt der Kräftige. »Nicht lange. Nur fürs Erste. «
»Wie gesagt, Zeit spielt hier keine große Rolle«, sagt der Lange.
»Überhaupt keine.« Der Kräftige nickt.
»Woher kommt denn der Strom?«
Die beiden sehen sich an.
»Sie haben ein kleines Windkraftwerk. Der Strom wird im Wald produziert. Dort weht immer ein Wind«, erklärt mir der Lange.
»Ohne Strom geht es nicht, oder?«
»Ohne Strom funktioniert der Kühlschrank nicht, und ohne Kühlschrank kann man keine Lebensmittel aufbewahren«, sagt der Kräftige.
»Na ja, irgendwas könnte man schon machen –«, erwidert sein Kamerad. »Aber es ist schon praktisch, wenn man einen hat.«
»Wenn du Hunger hast, kannst du dir aus dem Kühlschrank nehmen, was du willst. Es ist aber nichts Besonderes darin«, sagt der Kräftige.
»Es gibt hier kein Fleisch, keinen Fisch, keinen Kaffee und keinen Alkohol«, sagt der Lange. »Am Anfang fällt dir das vielleicht schwer, aber man gewöhnt sich schnell daran.«
»Eier, Käse und Milch gibt es«, sagt der Kräftige. »Denn bis zu einem gewissen Grad braucht man ja
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