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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Sinn? Das Wichtigste und Schwerwiegendste für den Menschen ist die Art seines Todes, dachte Hoshino. War die Art, wie man starb, nicht sogar wichtiger als die Art, wie man lebte? Vielleicht bestimmte die Lebensweise eines Menschen die Art seines Todes. Diese Gedanken gingen dem jungen Mann beim Anblick von Nakatas totem Gesicht ganz unwillkürlich durch den Kopf.
    Ein bedeutendes Problem blieb jedoch. Irgendjemand musste den Stein wieder vor den Eingang wälzen – die letzte Aufgabe, die Nakata noch verblieben war. Der Stein lag zu Füßen des Sofas. Wenn die Zeit gekommen war, musste Hoshino ihn vor den Eingang rollen. Aber wie Nakata gesagt hatte, konnte der Umgang mit dem Stein sich als äußerst gefährlich erweisen. Es musste eine vorschriftsmäßige Art geben, den Stein umzudrehen. Wenn er ihn mit roher Gewalt umdrehte und dabei etwas falsch machte, geriete vielleicht die Welt aus den Fugen.
    »Du kannst ja nichts dafür, dass du tot bist, alter Freund, aber dass du mir eine so gewichtige Aufgabe hinterlassen hast, ist nicht gerade angenehm«, sagte der junge Mann zu dem Toten, der natürlich keine Antwort gab.
    Ein weiteres Problem war Nakatas Leiche. Normalerweise hätte Hoshino sofort die Polizei und ein Krankenhaus anrufen müssen, um den Leichnam in ein Krankenhaus bringen zu lassen. Neunundneunzig Prozent aller Menschen auf der Welt würden so handeln. Hoshino hätte das auch gern getan, wenn es möglich gewesen wäre. Doch Nakata war ein wichtiger Zeuge, den die Polizei in Verbindung mit einem Mordfall suchte. Wenn herauskam, dass er zehn Tage mit ihm verbracht hatte, konnte Hoshino selbst in eine ziemlich heikle Lage geraten. Wahrscheinlich würde die Polizei ihn mitnehmen und ausgiebig befragen. Das wollte er unter allen Umständen vermeiden. Das Geschehene in allen Einzelheiten zu erklären wäre zu mühsam. Außerdem war der Umgang mit der Polizei sowieso einer seiner wunden Punkte. Er wollte möglichst nichts mit ihr zu tun haben.
    »Und wie soll ich denen dieses Apartment hier erklären?«, dachte Hoshino.
    »Ein älterer Mann, der wie Colonel Sanders aussah, hat uns die Wohnung überlassen und gesagt, sie sei extra für uns eingerichtet worden und wir dürften sie benutzen, solange wir wollten.« Würde die Polizei ihm diese Geschichte etwa ohne weiteres glauben? »Wer ist dieser Colonel Sanders? Ein amerikanischer Militär? – Nein, der Opa, der die Reklame für Kentucky Fried Chicken macht. Sie wissen doch, Herr Kommissar. – Ja, der. Mit Brille und einem weißen Bart … Der Mann ist Zuhälter in Takamatsu. Dort habe ich ihn kennen gelernt. Er hat mir eine Frau vermittelt. – Die Bullen werden glauben, ich verkaufe sie für blöd, und mir die Fresse polieren. Was sind die denn schon anderes als staatlich bezahlte Yakuza.«
    Der junge Mann seufzte tief.
    »Ich sollte möglichst schnell und möglichst weit von hier verschwinden. Und vom Bahnhof aus anonym die Polizei benachrichtigen. Die Adresse angeben und sagen, dass hier ein Toter liegt. Und dann sofort in den nächsten Zug steigen und nach Nagoya zurückfahren. So könnte ich mich aus der Sache raushalten. Es handelt sich ja eindeutig um einen natürlichen Tod, also wird die Polizei der Sache nicht allzu gründlich nachgehen. Nakatas Verwandte werden seine Leiche abholen und ein schlichtes Begräbnis veranstalten. Und ich gehe in die Firma und krieche meinem Chef in den Hintern. ›Verzeihen Sie mir, von nun an werde ich mein Bestes tun.‹ Und alles ist wieder beim Alten.«
    Hoshino suchte seine Sachen zusammen und stopfte sie in seine Reisetasche. Er setzte die grüne Sonnenbrille und die Chunichi-Dragons-Kappe auf und zog seinen Pferdeschwanz durch die Öffnung hinten. Weil er Durst hatte, nahm er sich eine Dose Pepsi Light aus dem Kühlschrank und trank sie gegen die Kühlschranktür gelehnt aus. Dabei fiel sein Blick auf den Stein, der zu Füßen des Sofas lag und der noch nicht wieder den Eingang verschloss. Der junge Mann ging ins Schlafzimmer und betrachtete noch einmal Nakatas Gestalt auf dem Bett. Wie tot sah er wirklich nicht aus. Er sah aus, als würde er ruhig atmen, vielleicht sogar jeden Moment aufstehen und rufen: »Herr Hoshino, es war alles ein Irrtum. Nakata ist gar nicht gestorben.« Aber so war es nicht. Es geschah kein Wunder. Nakata hatte die Wasserscheide des Lebens bereits überquert.
    Die Coladose in der Hand schüttelte Hoshino den Kopf. Es geht nicht, dachte er. Ich kann den Stein nicht einfach so hier liegen

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