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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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geschlafen, die Philosophie an der Universität studiert, wir haben den Eingangsstein aus dem Schrein geklaut – alle möglichen schrägen Dinger. In diesen zehn Tagen habe ich so viel Seltsames erlebt, dass es für den Rest meines Lebens reicht. Es war wie eine Probefahrt auf einer gigantischen Achterbahn.«
    Hier brach der junge Mann ab, um sich die Fortsetzung zu überlegen.
    »Aber weißt du was, alter Freund?«
    »Jawohl.«
    »Das Wunderbarste von allem bist du. Ja, du, Nakata. Und warum? Weil du mich völlig verändert hast. Genau. Ich finde, ich habe mich in den letzten zehn Tagen unglaublich verändert. Dinge, die ich bisher gar nicht beachtet habe, haben einen Wert bekommen. Musik, für die ich mich bis jetzt gar nicht interessiert habe, geht mir auf einmal zu Herzen. Und es gefällt mir, mit jemandem darüber zu sprechen, der genauso empfindet. Das war bis jetzt nicht so. Das ist nur gekommen, weil ich die ganze Zeit mit dir zusammen war und die Welt mit deinen Augen gesehen habe. Natürlich kann ich nicht alles von vorn bis hinten mit deinen Augen sehen, ist ja klar. Aber irgendwie ist es ganz von selbst bei vielem so gewesen. Das kam, weil es mir gut gefällt, wie du die Welt siehst. Deswegen bin ich auch die ganze Zeit bei dir geblieben. Ich konnte mich einfach nicht von dir trennen. Das war das Aufrichtigste, was in meinem ganzen bisherigen Leben passiert ist. Also habe ich dir mehr zu danken als du mir, und eigentlich musst du mir überhaupt nicht danken. Natürlich ist es nicht übel, wenn sich jemand bei einem bedankt. Ich will aber eigentlich nur sagen, dass du mir sehr viel Gutes getan hast. He, hörst du überhaupt zu?«
    Aber Nakata hörte ihn nicht mehr. Er hatte bereits die Augen geschlossen und schnaufte regelmäßig im Schlaf.
    »Der Mann hat echt die Ruhe weg«, sagte Hoshino und seufzte.
     
    Er trug Nakata in die Wohnung und legte ihn ins Bett. Die Kleider ließ er ihm an, zog ihm nur die Schuhe aus und breitete eine leichte Decke über ihn. Nakata drehte sich langsam um, bis sein Gesicht wie üblich zur Zimmerdecke zeigte. Dann begann er ruhig zu atmen und rührte sich nicht mehr.
    »Herrje, jetzt schläft er wieder zwei wenn nicht gar drei Tage wie ein Murmeltier«, dachte Hoshino.
    Aber es kam anders, als es der junge Mann erwartet hatte. Am Vormittag des nächsten Tages – Mittwoch – war Nakata tot. Er hatte ganz still mitten im Schlaf aufgehört zu atmen. Sein Gesicht war wie immer sehr ruhig und hatte sich auf den ersten Blick nicht verändert. Er atmete nur nicht mehr. Hoshino rüttelte ein ums andere Mal an seiner Schulter und rief seinen Namen. Aber Nakata war tatsächlich tot. Sein Puls schlug nicht mehr, und der Handspiegel, den Hoshino ihm zur Sicherheit vor den Mund hielt, beschlug nicht. Nakatas Atmung stand still. Auf dieser Welt jedenfalls würde er nicht noch einmal aufwachen.
     
    Ist man mit einem Toten in einem Raum, verstummen allmählich alle Laute. Die Geräusche der Wirklichkeit draußen verlieren immer mehr an Realität. Auch bedeutsame Geräusche verwandeln sich bald in Stille. Eine Stille, die allmählich tiefer wird, wie Schlamm sich auf dem Meeresgrund ansammelt. Zuerst bedeckt sie nur die Füße, dann reicht sie einem bis zur Hüfte und schließlich bis an die Brust. Dennoch blieb der junge Mann lange bei Nakata und schätzte dabei die Tiefe der sich anhäufenden Stille mit den Augen ab. Er setzte sich hin, betrachtete Nakatas Profil und versuchte seinen Tod zu begreifen. Es dauerte eine Weile, bis er ihn akzeptieren konnte. Die Luft schien eine eigentümliche Dichte anzunehmen, und er konnte nicht entscheiden, ob das, was er im Augenblick zu empfinden glaubte, seine wahren Gefühle waren. Dafür wurden ihm andere Dinge ganz von allein klar.
    Hoshino spürte, dass Nakata durch seinen Tod endlich wieder der normale Nakata geworden war. So lange und so sehr war er der andere gewesen, dass er sterben musste, um wieder zum normalen Nakata zu werden.
    »Weißt du, alter Freund«, sagte der junge Mann. »Vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber das ist keine üble Art zu sterben.«
    Nakata war ganz ruhig im Schlaf gestorben, wahrscheinlich ohne etwas davon zu spüren. Auch im Tod war sein Gesicht völlig ruhig, ohne die geringsten Anzeichen von Schmerz, Reue oder Bestürzung. Das passt zu ihm, dachte Hoshino. Er wusste nicht, wie Nakatas Leben wirklich gewesen war oder ob es einen Sinn darin gegeben hatte. Aber wessen Leben hatte denn schon einen eindeutigen

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