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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Wald ein Leid geschehen zu lassen.«
    »Also brauchst du dir wegen der Schlangen und so keine Sorgen zu machen«, sagt der Kräftige. »Beruhigt dich das?«
    »Ja«, sage ich.
    »Weder giftige Schlangen, noch giftige Spinnen, noch giftige Insekten, noch giftige Pilze oder sonst etwas werden dir hier Schaden zufügen«, sagt der Lange, den Blick weiter nach vorn gerichtet.
    »Sonst etwas?«, frage ich. Meine Erschöpfung hindert mich daran, entsprechende Bilder damit zu verknüpfen.
    »Sonst etwas eben, andere Leute«, sagt er. »Niemand und nichts wird dir hier etwas zuleide tun. Denn hier ist der tiefste Teil des Waldes. Niemand wird dir hier Schaden zufügen, nicht einmal du selbst.«
    Ich bemühe mich zu verstehen, was er sagt. Doch die Anstrengung, der Schweiß und der hypnotische Effekt, der von der Wiederholung ausgeht, beeinträchtigen zusammen mein Denkvermögen, sodass es mir nicht mehr gelingt, zusammenhängend zu denken.
    »Als wir noch Soldaten waren, mussten wir üben, wie man jemandem erbarmungslos ein Bajonett in den Bauch stößt«, erzählt der Kräftige. »Weißt du, wie man jemanden mit dem Bajonett ersticht?«
    »Nein«, sage ich.
    »Du musst es, nachdem du es dem Feind in den Bauch gerammt hast, darin herumdrehen. Und ihm die Eingeweide zerfetzen, sodass er eines qualvollen Todes stirbt. So ein Tod dauert seine Zeit, und die Schmerzen sind grässlich. Aber wenn du einen durchbohrst, ohne das Bajonett zu drehen, steht er gleich wieder auf und zerfetzt im Gegenzug dir die Eingeweide. So sah damals unsere Welt aus.«
    Eingeweide. Die Metapher des Labyrinths, so habe ich es von Oshima gelernt. In meinem Kopf verflechten sich verschiedene Gedanken und verheddern sich. Ich kann nicht mehr richtig zwischen Etwas und Nichts unterscheiden.
    »Weißt du, warum die Menschen sich solche Grausamkeiten antun?«, fragt der Lange.
    »Nein«, sage ich.
    »Ich auch nicht«, sagt er. »Ich wollte weder einem chinesischen noch einem russischen oder amerikanischen Soldaten die Eingeweide zerfetzen. Aber die Welt, in der wir lebten, verlangte das. Also sind wir davongelaufen. Doch damit kein Missverständnis entsteht: Wir sind durchaus keine Schwächlinge. Ich finde, wir waren sogar ausgezeichnete Soldaten. Nur dass wir es nicht ertragen konnten, uns dem Willen der Gewalt unterzuordnen. Du bist auch nicht gerade schwach, oder?«
    »Ich weiß nicht«, sage ich aufrichtig. »Ich habe mich immer bemüht, stärker zu werden.«
    »Das ist wichtig.« Der kräftige Soldat dreht sich zu mir um. »Sehr wichtig. Den Willen zu haben und sich zu bemühen, stark zu werden.«
    »Dass du stark bist, brauchst du uns nicht zu sagen. Das sehen wir«, sagt der Lange. »Jemand in deinem Alter würde es sonst gar nicht bis hierher schaffen.«
    »Du bist wirklich sehr reif«, sagt der Kräftige anerkennend.
    Endlich halten die beiden an. Der größere Soldat nimmt seine Brille ab, reibt sich die Nasenflügel und setzt sie dann wieder auf. Keiner von beiden ist außer Atem oder schwitzt.
    »Hast du Durst?«, fragt mich der Lange.
    »Ein bisschen.« In Wirklichkeit habe ich höllischen Durst, weil ich ja meinen Rucksack mit der Wasserflasche zurückgelassen habe. Der Soldat nimmt eine an seinem Gürtel befestigte Aluminiumflasche und reicht sie mir. Ich trinke ein paar Schlucke von dem körperwarmen Wasser. Es befeuchtet jeden Winkel meines Körpers. Ich wische den Hals der Flasche ab und gebe sie ihm zurück. »Danke.« Wortlos nickt er.
    »Wir sind auf dem Kamm«, sagt der Kräftige.
    »Pass auf, dass du nicht fällst«, sagt der Lange.
    Vorsichtig machen wir uns daran, den langen, steilen Abhang hinunterzusteigen, an dem man nur schlecht Halt findet.
    Als wir zur Hälfte unten sind, um eine Ecke biegen und den Wald verlassen, taucht vor uns plötzlich jene andere Welt auf.
    Die beiden Soldaten machen Halt und wenden sich zu mir um. Sie sagen kein Wort, aber ihre Augen sprechen Bände. Das ist der Ort. Da gehst du hin. Auch ich bleibe stehen und betrachte die Aussicht, die sich mir bietet.
    Ich sehe ein weites, unter geschickter Ausnutzung der Topographie urbar gemachtes Tal. Wie viele Menschen dort leben, kann ich nicht erkennen. Doch seiner Größe nach zu urteilen, können es nicht allzu viele sein. An einigen Wegen stehen vereinzelt ein paar Häuser. Es sind kleine Wege und kleine Häuser. Menschen sind nicht zu sehen. Alle Behausungen wirken ausdruckslos, als habe man beim Bau mehr Wert auf Wetterfestigkeit als auf Ästhetik gelegt.

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