Kafka am Strand
Abend zuvor, und ihre Haare sind wieder mit der Spange zurückgesteckt. Sie hat glatte schöne Haut. Wie Porzellan schimmern ihre schlanken Arme im Licht des Morgens. Um die Welt noch ein wenig vollkommener zu machen, fliegt durch das geöffnete Fenster eine Biene ins Zimmer. Nachdem das Mädchen mir das Frühstück auf den Tisch gestellt hat, setzt es sich auf einen Stuhl und schaut mir von der Seite beim Essen zu. Gemüseomelett und dazu Brot mit frischer Butter. Zu trinken gibt es Kräutertee. Sie selbst isst und trinkt nichts. Alles spielt sich nach dem gleichen Muster ab wie am vergangenen Abend.
»Machen sich die Leute hier ihr Essen nicht selbst?«, frage ich sie.
»Weil du es doch für mich zubereitest.«
»Manche kochen selbst, aber einige kriegen es auch gemacht«, sagt sie. »Aber im Allgemeinen essen die Leute hier kaum. «
»Sie essen kaum?«
Sie nickt.
» Hin und wieder schon. Wenn sie Appetit bekommen, dann essen sie eben etwas.«
»Das heißt, so wie ich jetzt esse, essen die anderen Leute nicht?«
»Kommt es vor, dass du einen ganzen Tag lang nichts isst?«
Ich schüttele den Kopf.
»Die Leute hier fühlen sich nicht schlecht, auch wenn sie einen ganzen Tag nicht essen. Oft vergessen sie es sogar. Manchmal mehrere Tage.«
»Aber weil ich daran noch nicht gewöhnt bin, muss ich eine gewisse Menge essen.«
»Vielleicht«, sagt sie. »Deshalb mache ich ja Essen für dich.«
Ich schaue sie an. »Wie lange wird es dauern, bis ich mich hier eingelebt habe?«
»Wie lange?«, wiederholt sie. Dann wiegt sie langsam den Kopf.
»Das weiß ich nicht. Zeit ist nicht die Frage. Es hat nichts mit der Menge der Zeit zu tun. Eingelebt hast du dich, wenn es so weit ist.«
Wir unterhalten uns über den Tisch hinweg. Sie hat beide Hände, die Handrücken nach oben, auf den Tisch gelegt. Die zehn unverschlungenen, geraden Finger sind etwas Reales. Ich schaue ihr ins Gesicht, folge den leichten Bewegungen ihrer Lider und zähle ihre Wimpernschläge. Beobachte heimlich das Wehen ihrer Stirnhaare. Ich kann den Blick nicht von ihr wenden.
»Wenn es so weit ist?«
»Du wirst nichts abreißen oder abwerfen. Wir werfen es nicht ab, wir nehmen es nur in uns auf.«
»Ich nehme es in mich auf?«
»Ja.«
»Und was passiert, wenn ich es aufgenommen habe?«, frage ich.
Sie neigt den Kopf etwas zur Seite und denkt nach. Es war eine sehr natürliche Bewegung, mit der sich auch ihr glattes Haar ein wenig neigte.
»Vielleicht wirst du ganz du«, sagt sie.
»Das heißt, im Augenblick bin ich noch nicht ganz ich?«
»Doch, du bist schon ausreichend du«, sagt sie. Wieder überlegt sie ein wenig. »Eigentlich meine ich ein bisschen etwas anderes. Ich kann es nur nicht so gut erklären.«
»Solange man es nicht selbst erlebt, weiß man nicht, wie es ist?«
Sie nickt.
Es wird mir schwer, sie anzuschauen, und ich schließe die Augen, öffne sie jedoch sofort wieder, um sicherzugehen, dass sie noch da ist.
»Führt ihr hier alle ein gemeinsames Leben?«
Abermals denkt sie nach. »Ja, wir leben hier zusammen und benutzen auch viele Dinge gemeinsam. Zum Beispiel die Duschen, das Kraftwerk, den Marktplatz – alles Dinge, über die man sich leicht einigen kann. Aber sie sind nicht das Wesentliche. Wichtiger ist es, einander zu verstehen, ohne groß nachzudenken. Ohne viele Worte zu machen, etwas vermitteln zu können. Deshalb sage ich auch fast nie etwas zu dir wie ›tu dieses‹ oder ›tu jenes nicht‹. Das Wichtigste ist, dass wir hier zu einem verschmelzen. Solange wir das tun, gibt es keine Probleme.«
»Verschmelzen?«
»Das heißt, wenn du im Wald bist, wirst du nahtlos zu einem Teil des Waldes. Wenn du im Regen stehst, wirst du Teil des Regens. Wenn es Morgen ist, wirst du ein Teil des Morgens. Wenn du mit mir zusammen bist, wirst du ein Teil von mir. So eben. Einfach ausgedrückt.«
»Und wenn du bei mir bist, wirst du ein Teil von mir.«
»Genau.«
»Was ist denn das für ein Gefühl? Ein Teil von mir zu werden, obwohl du ganz du selbst bist?«
Sie sieht mich direkt an und tastet nach ihrer Haarspange. »Es fühlt sich ganz natürlich an, und wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, ist es ganz leicht. Wie in den Himmel zu fliegen.«
»Du kannst in den Himmel fliegen?«
»Nur zum Beispiel « , sagt sie mit einem Lächeln. Es hat keine tiefere Bedeutung und keinen verborgenen Inhalt. Sie lächelt nur um des Lächelns willen. »Richtig verstehen, wie es ist, in den Himmel zu fliegen, kann man nur,
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