Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
unentwegt weiter. Als könne er sich nicht halten vor Vergnügen. Je heftiger Krähe ihn angriff, desto lauter wurde das Gelächter.
    Der Mann wandte die leeren, der Augäpfel beraubten Höhlen keine Sekunde von Krähe ab und stieß zwischen Lachsalven hervor:
    »Herrje, hab ich’s dir nicht gesagt? Bring mich doch nicht so zum Lachen! Du kannst dich abmühen, wie du willst, tun kannst du mir doch nichts! Du besitzt nicht die Fähigkeit dazu. Du bist nicht mehr als eine kümmerliche Illusion, nicht mehr als ein dürftiges Echo. Was du auch tust, es ist vergebens. Hast du das immer noch nicht begriffen?«
    Darauf stieß der Junge namens Krähe seinen Schnabel in den sprechenden Mund. Er schlug immer noch heftig mit den großen Flügeln, mehrere seiner glänzenden schwarzen Federn fielen aus und schwebten wie Seelenfragmente durch die Luft. Krähe stieß in die Zunge des Mannes, spießte sie auf und zerrte mit der Schnabelspitze und der Kraft seines ganzen Körpers daran. Es war eine entsetzlich fette, lange Zunge. Nachdem er sie dem Mann aus dem Hals gerissen hatte, wand sie sich wie eine Molluske und verwandelte sich in ein Wort der Finsternis. Ohne Zunge konnte der Mann eigentlich nicht mehr lachen. Er schien auch nicht mehr atmen zu können. Dennoch hielt er sich stumm den Bauch und lachte weiter. Das lautlose Gelächter klang dem Jungen namens Krähe in den Ohren. Es heulte hohl und unheilvoll und endlos wie der Wind, der über ferne, dürre Wüsten hinwegfegt. Es gemahnte an ein Flötenspiel, das aus einer anderen Welt herübertönte.

47
    Kurz nach Tagesanbruch erwache ich. Ich trinke den auf dem Elektrokocher zubereiteten Tee. Auf einem Stuhl am Fenster sitzend schaue ich nach draußen. Auf den Wegen ist kein Mensch, und kein Laut ist zu hören, nicht einmal frühmorgendliches Vogelgezwitscher. Wegen der umgebenden hohen Berge wird es spät hell, und die Sonne geht früh unter. Um nach der Uhrzeit zu schauen, gehe ich ins Schlafzimmer und greife nach meiner Armbanduhr, die am Kopfende des Bettes liegt. Sie ist stehen geblieben. Die Digitalanzeige ist verschwunden. Versuchsweise drücke ich wahllos verschiedene Knöpfe, doch das zeitigt keine Wirkung. Die Batterie kann eigentlich noch nicht leer sein. Dennoch hat die Uhr, als ich schlief, aus irgendeinem Grund aufgehört, sich zu bewegen. Ich lege sie auf den Tisch und reibe mir mit der rechten Hand das linke Handgelenk, an dem ich die Uhr zu tragen pflege. Zeit spielt hier keine bedeutende Rolle.
    Während ich nach draußen in die vogellose Landschaft schaue, wünsche ich mir, ich hätte etwas zu lesen. Egal was. Solange es nur gedruckt wäre und die Form eines Buches hätte. Wie gern würde ich es in der Hand halten, die Seiten umblättern und den aneinander gereihten Buchstaben mit den Augen folgen. Aber es gibt hier kein Buch. Überhaupt scheint hier nichts Gedrucktes zu existieren. Noch einmal schaue ich mich im Haus um. Aber soweit ich sehe, ist nichts Geschriebenes da.
    Ich öffne die Kommode im Schlafzimmer und nehme die Kleidungsstücke darin in Augenschein. Sie liegen ordentlich zusammengefaltet in den Schubladen. Nicht eins davon ist neu. Die Farben sind verblichen, und der Stoff ist vom vielen Waschen weich geworden. Alles wirkt jedoch sehr sauber. Hemden mit rundem Ausschnitt und Unterwäsche. Socken. Baumwollhemden mit Kragen. Baumwollhosen. Die Sachen haben ungefähr – vielleicht sogar genau – meine Größe. Keines der Kleidungsstücke ist gemustert. Sie sind ohne jede Ausnahme einfarbig. Als ob es auf der Welt nie gemusterte Kleidung gegeben hätte. Offenbar hat auch keines ein Schildchen mit dem Namen eines Herstellers. Also auch hier keine Schrift. Ich ziehe mein durchgeschwitztes T-Shirt aus und streife mir eines der grauen Hemden aus der Schublade über. Es riecht nach Sonne und Seife.
     
    Einige Zeit später – wie lange wohl? – kommt das Mädchen. Sie klopft leise und tritt ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Die Tür ist nicht abgeschlossen. Sie trägt eine ziemlich große Stofftasche über der Schulter. Der Himmel im Hintergrund ist inzwischen ganz hell.
    Wie am Abend zuvor steht sie in der Küche und bereitet in einer kleinen schwarzen Pfanne Eier für mich zu. Als sie die Eier in das heiße Öl in der Pfanne schlägt, entsteht ein leises angenehmes Brutzeln. Der Duft frischer Eier durchzieht den Raum. Das Brot toastet sie in einem plumpen Toaster, der aussieht wie aus einem alten Film. Sie trägt dasselbe hellblaue Kleid wie am

Weitere Kostenlose Bücher