Kafka am Strand
und schon kannst du nicht mehr in meine Nähe kommen. Dafür sorgt meine Flöte. Ich weiß nicht, ob du das weißt, aber es sind ganz besondere Flöten, anders als gewöhnliche Flöten. Ich habe mehrere davon hier in meiner Tasche.«
Der Mann streckte die Hand aus, klopfte liebevoll auf die Segeltuchtasche zu seinen Füßen und schaute noch einmal zu dem Ast hinauf, auf dem der Junge namens Krähe saß.
»Ich habe die Seelen von Katzen gesammelt und Flöten daraus gemacht. Aus den Seelen von Geschöpfen, die ich bei lebendigem Leib aufgeschlitzt habe. Nicht, dass ich kein Mitleid mit den armen Kätzchen gehabt hätte, aber es blieb mir einfach nichts anderes übrig. Diese Flöten sind jenseits von Gut und Böse oder von Liebe und Hass. All das zu überwinden war lange meine Mission. Ich habe diese Mission und meine Pflicht, so gut ich konnte, erfüllt. Ein Leben gelebt, für das niemand sich schämen muss. Ich habe geheiratet, Kinder gezeugt und nun genügend Flöten angefertigt. Darum mache ich keine Flöten mehr. Unter uns gesagt, die Flöten brauche ich, um eine größere Flöte herzustellen. Eine größere und mächtigere Flöte, die ein ganzes System sein wird. Und ich gehe jetzt an den Ort, an dem ich die Flöte anfertige. Nicht ich entscheide, ob die Flöte im Endeffekt Gutes oder Schlechtes bewirkt, und du natürlich auch nicht. Es hängt davon ab, wann ich wo bin. In dieser Hinsicht habe ich keine Vorurteile. Wie die Geschichte oder das Wetter. Deshalb kann ich auch zu einem System werden.«
Er nahm seinen Zylinder ab, strich sich über das schon etwas schüttere Haupthaar und setzte ihn wieder auf. Mit einem Finger stupste er gegen die Krempe und rückte ihn so zurecht.
»Es wäre ein Leichtes, dich mit dieser Flöte durch die Gegend zu scheuchen. Aber im Augenblick will ich sie möglichst nicht benutzen. Um sie zu spielen, braucht man nämlich viel Kraft, und ich will nicht sinnlos meine Kraft vergeuden. Die muss ich mir für später aufheben. Außerdem kannst du mich sowieso nicht aufhalten, ob ich jetzt auf der Flöte blase oder nicht. Das ist eine glasklare Sache, daran kann keiner mehr etwas ändern.«
Der Mann räusperte sich erneut. Dann strich er sich mehrmals über den Ansatz von Bauch, der sich unter dem Jersey hervorwölbte.
»He, hast du schon mal was von Limbo gehört? Limbo nennt man den Raum, der auf halber Strecke zwischen Leben und Tod liegt. Ein düsterer, trauriger Ort. Das ist nämlich der Ort, an dem ich mich augenblicklich befinde. Im Moment ist er in diesem Wald. Ich bin tot. Durch meine eigene Willenskraft gestorben. Aber ich bin noch nicht in die nächste Welt eingetreten, sondern eine Seele im Übergang. Seelen im Übergang haben keine Form. Was du hier siehst, ist nur eine vorläufige Gestalt, die ich angenommen habe. Deshalb kannst du mir jetzt auch nichts tun. Verstehst du? Selbst wenn mein Blut in Strömen fließt, ist es kein echtes Blut. Und wenn ich heftige Schmerzen erleide, sind es keine wirklichen Schmerzen. Mich auslöschen kann nur jemand, der dazu qualifiziert ist. Leider bist du das nicht, denn du bist nicht mehr als eine minderjährige, schwächliche Illusion. Wie groß und stark dein Wille auch sein mag, du kannst mich nicht vernichten.«
Der Mann lächelte den Jungen namens Krähe freundlich an.
»Wie sieht’s aus? Willst du’s mal probieren?«
Als seien diese Worte ein Signal, breitete Krähe die Flügel aus, schwang sich von seinem Ast und schoss in rasantem Sturzflug auf den Mann zu. Er verkrallte sich in die Brust des Mannes, bog den Kopf weit zurück und stieß seinen scharfen Schnabel mit aller Kraft ins rechte Auge des Mannes, als würde er eine Spitzhacke schwingen. Mit hartem Knattern schlugen seine schwarzen Flügel durch die Luft.
Der Mann wehrte sich überhaupt nicht. Er saß da, ohne auch nur einen Finger zu rühren. Statt zu schreien, begann er sogar laut zu lachen. Sein Hut fiel zu Boden, sein Augapfel war auf der Stelle zerfetzt und lief aus der Augenhöhle. Krähe attackierte weiter heftig beide Augen des Mannes. Als nur noch die leeren Augenhöhlen übrig waren, hackte er mit seinem Schnabel unablässig auf das Gesicht des Mannes ein. Binnen kurzem spritzte das Blut aus zahllosen Wunden. Das Gesicht war über und über rot, die Haut hing herunter und Fleischfetzen flogen, bis es nur noch eine einzige blutige Masse war. Als Nächstes stieß Krähe seinen Schnabel erbarmungslos in die durchscheinende Kopfhaut. Trotz allem lachte der Mann
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