Kafka am Strand
Rücken und klammern sich an die Mauer der Zeit. Es riecht nach Salzwasser, die Brandung ist zu hören. Jemand ruft meinen Namen. Aus weiter Ferne.
»Bist du meine Mutter?«, frage ich endlich.
»Du solltest die Antwort kennen«, sagt Saeki-san.
Ja, ich kenne die Antwort. Doch weder sie noch ich können sie in Worte fassen, denn dann verlöre sie ihre Bedeutung.
»Vor langer Zeit habe ich verlassen, was ich nicht verlassen durfte«, sagt sie. »Es war dasjenige, was ich am meisten liebte. Denn ich fürchtete, es irgendwann zu verlieren. Deshalb musste ich selbst fortgehen. Damals dachte ich, es sei besser, selbst zu gehen, als dass es mir geraubt würde oder in irgendeinem Moment verschwände. Natürlich gab es auch ein nie nachlassendes Gefühl von Zorn. Aber das war falsch. Ich hätte niemals fortgehen dürfen.«
Ich schweige.
»Du warst es, den ich verlassen musste«, sagt sie. »Kafka, kannst du mir vergeben?«
»Habe ich die Fähigkeit, dir zu vergeben?«
Sie lehnt sich an meine Schulter und nickt. »Wenn Zorn und Angst dich nicht daran hindern.«
»Wenn ich die Fähigkeit dazu habe, werde ich dir vergeben«, sage ich.
MUTTER, sagst du, ich vergebe dir. und die eisdecke über deinem herzen knackt.
Wortlos löst sich Saeki-san aus unserer Umarmung. Dann nimmt sie die Nadel aus ihrem Haar und stößt sich, ohne zu zögern, die scharfe Spitze in den linken Arm. Nun drückt sie mit ihrer rechten Hand auf die Ader daneben. Sogleich quillt Blut aus der Wunde. Der erste Tropfen fällt mit einem unerwartet lauten Klatschen zu Boden. Stumm hält sie mir ihren Arm hin. Wieder tropft Blut auf den Boden. Ich beuge mich hinunter und bringe meine Lippen an die kleine Wunde, um ihr Blut zu lecken. Mit geschlossenen Augen genieße ich seinen Geschmack. Bevor ich es schlucke, behalte ich das Blut, das ich aus der Wunde gesaugt habe, im Mund. Dann lasse ich es langsam durch meine Kehle rinnen. Ganz natürlich saugt die ausgedörrte Haut meines Herzens es auf. Zum ersten Mal wird mir bewusst, wie sehr es mich nach diesem Blut verlangt hat. Mein Herz ist in einer fernen Welt, doch zur selben Zeit ist mein Körper hier. Wie bei einem lebendigen Geist. Ich wünsche mir, ihr ganzes Blut in mich aufzusaugen. Aber das kann ich nicht. Ich nehme den Mund von ihrem Arm und blicke ihr ins Gesicht.
»Lebewohl, kleiner Kafka Tamura«, sagt sie. »Geh zurück und lebe weiter.«
»Warte noch!«
»Ja?«
»Welchen Sinn soll es für mich haben weiterzuleben?«
Sie nimmt ihre Hand von meinem Körper und sieht zu mir auf. Berührt mit ihrer Hand meine Lippen.
»Schau dir das Bild an«, sagt sie ruhig. »So wie ich es getan habe. Schau es immer an.«
Sie geht. Öffnet die Tür und geht hinaus, ohne sich umzuwenden. Und schließt die Tür. Ich stehe am Fenster und sehe ihr nach. Mit raschen Schritten verschwindet sie im Schatten eines Hauses. Die Hand an den Fensterrahmen gelegt, starre ich lange auf die Stelle, an der ihre Gestalt verschwunden ist. Vielleicht fällt ihr noch etwas ein, das sie vergessen hat, mir zu sagen, und sie kommt zurück. Aber sie kommt nicht. Zurück bleiben wie eine Lücke nur die Umrisse ihrer Abwesenheit.
Die Biene erwacht und fliegt einen Moment lang um mich herum. Dann schwirrt sie, als sei ihr ganz plötzlich etwas eingefallen, durch das offene Fenster ins Freie. Die Sonne scheint weiter. Ich setze mich wieder an den Tisch und lasse ihre noch halb volle Tasse dort stehen, ohne sie zu berühren. Die Tasse wirkt wie ein Symbol für ihre Erinnerungen, die bald verloren sein werden.
Ich ziehe das Hemd aus und streife mir wieder mein altes verschwitztes T-Shirt über. Schnalle mir die stehen gebliebene Uhr ums linke Handgelenk und setze meine blaue Sonnenbrille auf. Auch die Mütze, die Oshima mir geschenkt hat. Den Schild drehe ich nach hinten. Über das T-Shirt ziehe ich noch mein langärmliges Hemd. In der Küche fülle ich mir ein Glas aus dem Wasserhahn und trinke es in einem Zug aus. Nachdem ich es ins Spülbecken gestellt habe, sehe ich mich in der Küche um. Dort sind der Tisch und die Stühle. Der Stuhl, auf dem das Mädchen und Saeki-san gesessen haben. Auf dem Tisch steht noch die Tasse, die sie nicht ausgetrunken hat. Mit geschlossenen Augen atme ich tief ein. Du solltest die Antwort kennen, hat sie gesagt.
Ich öffne die Tür und trete hinaus. Schließe die Tür hinter mir. Gehe die Stufen der Veranda hinab. Scharf zeichnet sich mein Schatten auf dem Boden ab. Er sieht aus, als würde
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