Kafka am Strand
wenn man wirklich in den Himmel geflogen ist. Genauso ist das.«
»Jedenfalls geschieht es ganz spontan, ohne dass du darüber nachdenken musst, oder?«
Sie nickt. »Genau. Es geschieht spontan, entspannt und ruhig. Man braucht nicht darüber nachzudenken. Es vollzieht sich bruchlos.«
»Sag mal, stelle ich dir vielleicht zu viele Fragen?«
»Nein, gar nicht«, sagt sie. »Ich würde es dir nur gern besser erklären können.«
»Hast du Erinnerungen?«
Sie schüttelt den Kopf und legt noch einmal ihre Hände auf den Tisch. Diesmal zeigen ihre Handflächen nach oben. Sie betrachtet sie einen Moment. Doch in ihren Augen liegt kein bestimmter Ausdruck.
»Nein. Wo die Zeit kein Gewicht hat, haben auch Erinnerungen kein Gewicht. An gestern Abend erinnere ich mich natürlich. Ich bin hergekommen und habe dir einen Gemüseeintopf gekocht. Dann hast du alles aufgegessen. Stimmt’s? Vom Tag vorher weiß ich auch noch einiges. Aber was davor war, weiß ich nicht mehr. Die Zeit verschmilzt in mir, und ein Unterschied zwischen einer Sache und der nächsten tritt nicht auf.«
»Erinnerung spielt hier keine wichtige Rolle.«
Sie lacht hell. »Ganz recht. Um die Erinnerungen kümmert sich die Bibliothek.«
Als sie gegangen ist, trete ich ans Fenster, um mir die Hände in der Morgensonne zu wärmen. Ihr Schatten fällt auf die Fensterbank und die Form der fünf Finger zeichnet sich deutlich darauf ab. Die Biene hört auf umherzufliegen und lässt sich ruhig auf der Scheibe nieder. Sie scheint ebenso wie ich ernsthaft über etwas nachzudenken.
Die Sonne hat ihren Zenit schon leicht überschritten, als sie in meine Behausung kommt. Aber es ist nicht das Mädchen. Leise klopft sie an und öffnet die Eingangstür. Im ersten Augenblick kann ich sie kaum von dem jungen Mädchen unterscheiden. Infolge einer kleinen Veränderung der Lichtverhältnisse oder der Art, in der der Wind weht, kann man leicht etwas verwechseln. Mir ist, als wäre sie in einem Augenblick das Mädchen und verwandle sich im nächsten wieder in Saeki-san. Aber so ist es nicht. Die Person, die vor mir steht, ist zweifellos Saeki-san und niemand sonst.
»Hallo«, sagt sie in ganz natürlichem Ton, als würden wir einander im Korridor der Bibliothek begegnen. Sie trägt eine dunkelblaue Bluse mit langen Ärmeln und einen knielangen dunkelblauen Rock, die schmale silberne Halskette und die kleinen Perlenstecker. Eine vertraute Erscheinung. Ihre Absätze klappern auf den Dielen der Veranda. Ihr trockenes Stakkato will nicht recht an diesen Ort passen.
In der Tür bleibt Saeki-san stehen und mustert mich aus dieser Entfernung. Wie um sich zu vergewissern, ob ich es auch wirklich bin. Aber natürlich bin ich es wirklich. Ebenso wie sie wirklich Saeki-san ist.
»Komm doch rein und trink einen Tee mit mir«, sage ich.
»Danke«, sagt sie und betritt, als hätte sie sich nun entschlossen, das Haus. Ich gehe in die Küche, schalte den Elektrokocher ein und setze Wasser auf. Währenddessen versuche ich ruhiger zu atmen. Sie setzt sich an den Tisch. Auf denselben Stuhl, auf dem das junge Mädchen gesessen hat.
»Fast wie in der Bibliothek.«
»Ja, genau«, stimme ich ihr zu. »Nur dass es keinen Kaffee gibt und Herr Oshima nicht da ist.«
»Und es hier kein einziges Buch gibt«, sagt sie.
Ich gieße den Kräutertee, den ich gekocht habe, in zwei Tassen und stelle sie auf den Tisch. Wir sitzen einander gegenüber. Durch das geöffnete Fenster ertönt Vogelgezwitscher. Die Biene sitzt noch immer auf der Scheibe.
Saeki-san spricht als Erste. »Es war, um die Wahrheit zu sagen, nicht ganz einfach, hierher zu kommen. Aber ich wollte dich unbedingt sehen und mit dir sprechen.«
Ich nicke. »Danke, dass du gekommen bist.«
Um ihre Mundwinkel spielt das gewohnte Lächeln. »Es gibt etwas, das ich dir sagen muss.« Ihr Lächeln gleicht dem des jungen Mädchens sehr, nur dass Saeki-sans Lächeln ein wenig mehr Tiefe hat. Dieser kleine Unterschied bringt mein Herz zum Taumeln.
Sie umschließt mit beiden Händen ihre Tasse. Ich betrachte die kleinen weißen Perlenstecker in ihren Ohren. Sie überlegt ein wenig. Es dauert länger als sonst.
»Ich habe alle meine Erinnerungen vernichtet.« Sie wählt ihre Worte mit Bedacht. »Sie sind als Rauch zum Himmel gestiegen. Darum werde ich verschiedene Dinge nicht allzu lange behalten können. Verschiedenes, alles. Dazu gehört auch das, was dich betrifft. Daher wollte ich dich möglichst rasch sehen und mit dir reden, solange
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