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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ich alles noch weiß.«
    Ich wende mein Gesicht zur Seite und betrachte die Biene auf der Fensterscheibe. Ihr schwarzer Schatten fällt als Punkt auf das Fensterbrett.
    »Zuerst das Wichtigste«, sagt Saeki-san ruhig. »Geh von hier fort, solange es noch nicht zu spät ist. Durchquere den Wald und kehre in dein früheres Leben zurück, denn der Eingang wird bald geschlossen. Versprich mir das.«
    Ich schüttle den Kopf. »Du verstehst das nicht. Es gibt keine Welt, in die ich zurückkehren kann. Ich kann mich nicht erinnern, dass mich in meinem Leben je jemand geliebt oder gewollt hat. Außer mir selbst habe ich niemanden, auf den ich mich verlassen kann. Das ›frühere Leben‹, von dem du sprichst, bedeutet mir nichts.«
    »Du musst trotzdem zurückgehen.«
    »Auch wenn dort nichts auf mich wartet? Und mich niemand will?«
    »Das stimmt nicht«, sagt sie. »Ich will, dass du dort bist.«
    »Aber du wirst nicht mehr da sein. Oder?«
    Sie sieht hinunter auf die Tasse, die sie mit beiden Händen umschlossen hält. »Nein, leider werde ich nicht mehr da sein.«
    »Aber was willst du dann, das ich dort mache?«
    »Insbesondere eines.« Sie hebt den Kopf und sieht mir in die Augen. »Ich will, dass du dich an mich erinnerst. Solange du dich an mich erinnerst, können mich alle anderen ruhig vergessen.«
    Schweigen breitet sich zwischen uns aus. Tiefes Schweigen. In meiner Brust wächst die Frage. Sie schwillt so sehr an, dass sie mir die Kehle verschließt und mir das Atmen schwer fällt. Irgendwie gelingt es mir, sie herunterzuwürgen.
    »Ist die Erinnerung denn so wichtig?«, frage ich stattdessen.
    »Es kommt darauf an«, sagt sie und schließt kurz die Augen. »In manchen Fällen kann sie wichtiger sein als alles sonst.«
    »Aber du hast sie doch selbst verbrannt.«
    »Weil ich keine Verwendung mehr dafür habe.« Sie legt die Hände auf den Tisch, mit den Handflächen nach oben, genau wie es das Mädchen getan hat. »Ich habe eine Bitte an dich, Kafka. Behalte das Bild.«
    »Das Strandbild, das in meinem Zimmer in der Bibliothek hängt?«
    Sie nickt. »Ja. ›Kafka am Strand‹. Ich möchte, dass du dieses Bild aufbewahrst. Wo, ist egal. Dort, wo du jetzt hingehst.«
    »Aber das Bild hat doch einen Besitzer.«
    Sie schüttelt den Kopf. »Es gehört mir. Als er auf die Universität nach Tokyo ging, hat er es mir geschenkt. Seit damals habe ich es immer bei mir gehabt. Es in meinem Zimmer aufgehängt, wo immer ich war. Als ich anfing, in der Komura-Bibliothek zu arbeiten, habe ich es wieder in sein Zimmer zurückgebracht, an die Stelle, an der es früher hing. Ich habe einen Brief an Herrn Oshima in meine Schreibtisch-Schublade in der Bibliothek gelegt, in dem steht, dass ich es dir hinterlasse. Eigentlich gehört es ohnehin dir. «
    »Mir?«
    Sie nickt. »Denn du warst dort. Und ich war bei dir und habe dich gesehen. Vor langer Zeit. Am Strand. Der Wind wehte, weiße Wolken standen am Himmel, und es war immer Sommer.«
    Ich schließe die Augen. Es ist Sommer, und ich sitze in einem Liegestuhl am Meer. Ich spüre den rauen Stoff auf meiner Haut. Ich atme den Duft des Salzwassers ein. Obwohl meine Augenlider geschlossen sind, blendet das Licht. Ich höre die Wellen. Wie von der Zeit ins Wanken gebracht, entfernt und nähert sich das Rauschen des Meeres. In einiger Entfernung malt jemand ein Bild von mir. Neben ihm sitzt ein Mädchen in einem hellblauen Kleid mit kurzen Ärmeln und sieht zu mir herüber. Sie trägt einen Strohhut mit einer weißen Schleife und lässt den Sand durch ihre Finger rinnen. Sie hat glattes Haar und kräftige lange Finger, die Finger einer Pianistin. Ins Licht der Sonne getaucht, schimmern ihre glatten Arme wie Porzellan. Ein natürliches Lächeln umspielt ihre geraden Lippen. Ich liebe sie. Sie liebt mich.
    Das ist die Erinnerung.
    »Ich möchte, dass du das Bild immer bei dir behältst.«
    Saeki-san steht auf und tritt ans Fenster. Sie schaut hinaus. Die Sonne hat gerade erst den Zenit überschritten. Die Biene schläft noch immer. Saeki-san beschirmt mit der rechten Hand ihre Augen und blickt in die Ferne. Dann wendet sie sich zu mir um.
    »Ich muss gehen«, sagt sie.
    Ich stehe auf und gehe zu ihr hinüber. Ihr Ohr berührt meinen Hals. Ich spüre die Härte ihres Ohrsteckers. Ich lege beide Handflächen auf ihren Rücken und versuche, dort ein Zeichen zu ertasten. Ihr Haar streichelt meine Wange. Mit beiden Händen drückt sie mich fest an sich. Ihre Fingerspitzen graben sich in meinen

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