Kafka am Strand
daran hat sich auch nichts geändert. Wir kommen her, um so etwas wie Kraft zu schöpfen. Kraft und Ruhe. Verstehst du, was ich meine?«
»Ich glaube ja«, sage ich.
»Mein Bruder meint, du würdest es verstehen«, sagt Sada. »Wer es nicht gleich versteht, versteht es nie.«
Der verblichene Bezug der Sitze ist voller weißer Hundehaare. Es riecht nach Hund und Salzwasser, nach Surfbrett-Wachs und Zigarettenrauch. Der Schalter für die Klimaanlage ist abgebrochen, der Aschenbecher quillt über vor Zigarettenkippen, und im Seitenfach an der Tür stecken lauter Kassetten ohne Hüllen.
»Ich bin ein paar Mal in den Wald gegangen«, sage ich.
»Weit?«
»Ja«, sage ich. »Ihr Bruder hat mich natürlich gewarnt, zu weit hineinzugehen.«
»Aber du hast es trotzdem getan?«
»Ja.«
»Ich bin auch mal ziemlich weit reingegangen. Das muss aber schon mehr als zehn Jahre her sein.«
Eine Weile konzentriert er sich, beide Hände auf das Lenkrad gelegt, auf die Fahrt. Die dicken Reifen lassen Kiesel über den Abgrund spritzen. Hier und da hocken ein paar Krähen am Rand, die auch dann nicht ausweichen, wenn der Wagen nahe an sie herankommt, sondern uns anstarren wie eine Kuriosität.
»Bist du den Soldaten begegnet?«, fragt Sada so beiläufig, als würde er nach der Uhrzeit fragen.
»Sie meinen die beiden Soldaten?«
»Ja.« Sada wirft einen Blick auf mein Profil. »Da bist du ja ganz schön weit hineingegangen.«
»Ja.«
Die rechte Hand locker auf dem Lenkrand, sagt er lange nichts. Er gibt nicht alle seine Gedanken preis und verzieht keine Miene.
»Sada?«
»Hm?«
»Was haben Sie gemacht, als Sie damals vor zehn Jahren den Soldaten begegnet sind?«, frage ich.
»Was ich gemacht habe?« wiederholt er meine Frage.
Ich nicke und warte auf seine Antwort. Sada schaut prüfend in den Rückspiegel und richtet seinen Blick dann wieder nach vorn.
»Ich habe die Geschichte bisher keinem erzählt«, sagt er. »Auch mein Bruder weiß nichts davon. Mein Bruder oder meine Schwester. Man könnte ja beides sagen, aber gut, mein Bruder. Er weiß nichts von den Soldaten.«
Wortlos nicke ich.
»Ich will die Geschichte eigentlich auch in Zukunft keinem erzählen. Nicht einmal dir. Vielleicht geht es dir genauso, und du willst sie nicht einmal mir erzählen. Verstehst du, was ich sagen will?«
»Ich glaube schon«, sage ich.
»Was hältst du davon?«
»Wie es dort ist, lässt sich mit Worten sowieso nicht richtig erklären. Die wahre Antwort liegt jenseits aller Worte.«
»Genau«, sagt Sada. »Genau. Und was man nicht erklären kann, davon spricht man am besten gar nicht.«
»Und sich selbst?«, frage ich.
»Tja«, sagt Sada. »Vielleicht sollte man nicht einmal versuchen, es sich selbst zu erklären.«
Sada bietet mir ein Pfefferminzkaugummi an. Ich nehme es.
»Bist du schon mal gesurft?«, fragt er mich.
»Nein.«
»Wenn sich die Gelegenheit ergibt, bringe ich es dir beim nächsten Mal bei«, sagt er. »Natürlich nur, wenn du Interesse hast. Am Strand von Kochi gibt es erstklassige Wellen, und es ist auch nicht so voll. Auch wenn es nicht den Anschein hat, ist Surfen ein sehr tiefer Sport, denn man lernt dabei, sich nicht gegen die Kräfte der Natur zu stemmen. Ganz gleich wie rau sie sind.«
Er zieht eine Zigarette aus der Tasche seines T-Shirts, steckt sie in den Mund und zündet sie am Zigarettenanzünder an.
»Das gehört auch zu den Dingen, die sich nur schwer in Worte fassen oder mit Ja oder Nein beantworten lassen«, sagt er.
Er verengt die Augen zu einem Spalt und bläst den Rauch ruhig aus dem Fenster.
»An der Küste von Hawaii gibt es eine Stelle, die Toilet Bowl genannt wird. Dort treffen anbrandende und zurückflutende Wellen aufeinander und bilden einen großen runden Strudel, wie bei einer Toilettenspülung. Wenn du davon einmal erfasst und auf den Grund gezogen wirst, kommst du sehr schwer wieder hoch. Je nachdem, wie die Wellen kommen, kann es passieren, dass du nie wieder auftauchst. Du bleibst auf dem Meeresgrund. Da hilft kein Zappeln und kein Zagen. Im Gegenteil, mit der Zappelei vergeudest du nur deine Kräfte. Wer das einmal erlebt hat, dem kann nicht viel Schlimmeres mehr passieren. Andererseits bist du kein echter Surfer, wenn du so eine Situation nicht mal durchlebt hast. Nur Auge in Auge mit dem Tod kannst du ihn richtig kennen lernen und deine Angst davor überwinden. Auf dem Grund so eines Strudels kommst du auf alle möglichen Gedanken. Gewissermaßen schließt du Freundschaft
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