Kafka am Strand
sie sagt es wie jemand, der nur etwas sagen muss. Ohne Überzeugung.
Oshima zieht sein Portemonnaie aus der Hosentasche, nimmt seinen Ausweis heraus und reicht ihn ihr. Sie liest, runzelt die Stirn und reicht ihn der größeren weiter. Diese liest ebenfalls und gibt Oshima nach kurzem Zögern die Karte mit einer Miene zurück, als würde sie eine unglückverheißende Spielkarte ablegen.
»Möchtest du auch mal sehen?«, wendet Oshima sich an mich. Wortlos schüttle ich den Kopf. Nachdem er seinen Ausweis wieder ins Portemonnaie und dieses wieder in die Hose gesteckt hat, legt er beide Hände auf die Theke. »Also ist das, was Sie gesagt haben, von Grund auf falsch . Ich kann nach Ihrer Definition nicht der traurige historische Prototyp eines männlichen Mannes sein.«
»Aber –«, setzt die größere Frau an, bricht jedoch ab. Die kleinere presst die Lippen fest zusammen und zupft mit der rechten Hand am Kragen ihrer Bluse.
»Die Hülle ist zwar weiblich, aber mein Bewusstsein ist vollkommen männlich«, fährt Oshima fort. »Ich lebe psychisch als Mann. Daher könnte das mit dem historischen Prototyp eventuell doch stimmen. Vielleicht bin ich ein notorischer Diskriminierer. Trotz allem bin ich keine Lesbierin. In sexueller Hinsicht gefallen mir Männer. Also bin ich schwul, obwohl ich eine Frau bin. Ich benutze nie meine Vagina, bei sexuellen Handlungen setze ich meinen Anus ein. Meine Klitoris ist empfindlich, meine Brustwarzen sind es jedoch nicht. Ich habe auch keine Periode. Wen oder was diskriminiere ich? Nun, wer sagt es mir?«
Wir anderen drei schweigen weiter. Jemand räuspert sich leise. Es klingt unpassend. Die Wanduhr tickt ungewöhnlich laut und hart.
»Es tut mir leid, aber ich war gerade beim Mittagessen«, sagt Oshima freundlich. »Thunfisch-Spinatröllchen. Ich bin mittendrin gerufen worden. Wenn ich sie noch länger liegen lasse, werden sie bestimmt von den Nachbarskatzen gefressen. In dieser Gegend gibt es massenhaft Katzen, weil viele Leute die Kleinen in dem Kiefernwäldchen am Strand aussetzen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich jetzt gern weiteressen. Lassen Sie sich aber bitte nicht stören und schauen Sie sich in Ruhe um. Diese Bibliothek steht allen Bürgern offen. Solange man die Hausregeln beachtet und die anderen Leser nicht stört, gibt es kaum Einschränkungen. Schauen Sie sich an, was Ihnen beliebt. Und schreiben Sie Ihren Bericht, wie Sie es wünschen. Was immer Sie schreiben, wir werden uns wahrscheinlich nicht viel daraus machen. Bislang sind wir ohne Unterstützung und Anweisungen nach unserem Gutdünken verfahren und beabsichtigen, das auch in Zukunft so zu halten.«
Als Oshima fort ist, tauschen die beiden Frauen einen stummen Blick und sehen dann mich an. Wahrscheinlich vermuten sie in mir Oshimas Liebhaber. Schweigend ordne ich die Lesekarten. Die beiden flüstern zwischen den Regalen miteinander und holen dann ihr Gepäck ab. Sie wirken wie erstarrt und bedanken sich auch nicht, als ich ihnen ihre Rucksäcke reiche.
Kurze Zeit später kommt Oshima vom Essen zurück. Er hat mir zwei Spinatröllchen aufgehoben. Sie sehen aus wie grüne Tortillas und sind mit Gemüse und Thunfisch gefüllt, dazu gibt es eine weiße Sauce. Ich esse sie zu Mittag und mache mir anschließend eine Tasse Earl Grey.
»Alles, was ich vorhin gesagt habe, stimmt wirklich«, sagt Oshima, als er vom Essen kommt.
»Als Sie damals gesagt haben, Sie seien anders, haben Sie also das gemeint?«, sage ich.
»Ich will mich nicht wichtig machen, aber du solltest wissen, dass ich vorhin nicht bloß übertrieben habe.«
Ich nicke stumm.
Oshima lacht. »Vom Geschlecht her bin ich zweifelsfrei eine Frau, aber ich habe fast keine Brüste und auch noch nie menstruiert. Aber einen Penis, Hoden und einen Bart habe ich auch nicht. Kurz gesagt, ich habe gar nichts. Schlicht und ergreifend gar nichts. Wahrscheinlich kannst du nicht verstehen, was für ein Gefühl das ist.«
»Wahrscheinlich nicht«, sage ich.
»Manchmal verstehe ich selbst nicht, was und wieso ich so bin. Was bin ich denn? Was denn nur? Weißt du es?«
Ich schüttle den Kopf.
»Ach, ich weiß doch noch nicht mal, was ich selber bin.«
»Die alte Suche nach der Identität.«
Ich nicke.
»Aber du hast immerhin einen Anhaltspunkt. Ich nicht.«
»Was immer Sie auch sind, Herr Oshima, ich kann Sie sehr gut leiden«, sage ich. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich so etwas zu jemandem sage. Ich erröte ein bisschen.
»Danke«,
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