Kafka am Strand
jetzt geht’s nicht weiter.«
Die beiden waren ziemlich verblüfft, als sie das hörten. Er konnte nicht lesen? Allerdings wirkte er wie ein harmloser alter Mann. Freundlich und adrett gekleidet. Dass er an einem so schönen Tag einen Regenschirm bei sich trug, war ein bisschen ungewöhnlich, aber wie ein Obdachloser sah er nicht aus. Sein Gesicht war nicht unsympathisch, und seine Augen blickten klar.
»Haben Sie Nakano wirklich noch nie verlassen?«, fragte das eine – schwarzhaarige – Mädchen.
»Nein, nie. Wenn Nakata sich verläuft, sucht ihn ja niemand.«
»Und lesen können Sie auch nicht?«, fragte das andere Mädchen, dessen Haar braun gefärbt war.
»Nein, kein bisschen. Einfache Zahlen gehen, aber Rechnen nicht.«
»Dann ist es wirklich schwer, mit der Bahn zu fahren.«
»Ja, sehr schwer. Fahrkarte kaufen geht auch nicht.«
»Wir würden Sie ja zum Bahnhof bringen und in die richtige Bahn setzen, aber wir müssen gleich wieder zur Arbeit. Tut uns leid, aber wir haben keine Zeit, Sie zu begleiten.«
»Nein, nein, Nakata wird es schon selber schaffen.«
»Ach ja«, sagte das schwarzhaarige Mädchen. »Hat nicht Tougeguchi aus der Handelsabteilung gesagt, er würde heute nach Yokohama fahren?«
»Doch, stimmt, hat er gesagt. Den könnten wir doch fragen. Er ist ein bisschen mürrisch, aber kein übler Kerl«, sagte das braunhaarige Mädchen.
»Hören Sie mal, wenn Sie nicht lesen können, wäre es doch besser, Sie fahren per Anhalter, oder?«, sagte die Schwarzhaarige.
»Per Anhalter?«
»Sie bitten einen Autofahrer, Sie mitzunehmen. Meist sind es Fernfahrer. PKW-Fahrer nehmen im Allgemeinen niemanden mit.«
»Schwierige Sachen wie Fernfahrer und PKW versteht Nakata nicht.«
»Sie müssen es nur probieren, dann geht es schon. In meiner Studentenzeit hab ich das auch mal gemacht. Die Lastwagenfahrer waren alle sehr nett.«
»Wohin an der Tomei-Autobahn wollen Sie denn überhaupt?«, fragte das braunhaarige Mädchen.
»Weiß nicht.«
»Sie wissen es nicht?«
»Nein. Aber wenn Nakata dort ist, weiß er es. Als Erstes muss er auf der Tomei-Autobahn nach Westen. Was dann kommt, überlegt er sich später. Jedenfalls muss Nakata nach Westen.«
Die beiden Mädchen wechselten einen Blick. Nakatas Art zu sprechen hatte eine eigene Überzeugungskraft, sodass die beiden spontan Sympathie für ihn empfanden. Sie aßen ihr Lunchpaket auf, warfen die leeren Schachteln in den Papierkorb und standen auf.
»Kommen Sie mit, Herr Nakata. Ich glaube, wir können etwas für Sie tun«, sagte das schwarzhaarige Mädchen.
Nakata trottete hinter den beiden her zu einem großen Gebäude in der Nähe. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er ein so großes Gebäude betrat. Die beiden ließen ihn auf einer Bank im Foyer Platz nehmen. Nachdem sie ein paar Worte mit der Dame am Empfang gewechselt hatten, baten sie ihn, dort zu warten, und verschwanden in einem der vielen Aufzüge. Die aus der Mittagspause zurückkehrenden Angestellten strömten an Nakata vorbei, der mit seinem Schirm und seinem Stoffbeutel im Arm auf der Bank saß. Auch diese Szene war ihm neu. Alle trugen – wie abgesprochen – die gleich adrette Kleidung. Die Männer Krawatten und die Frauen blitzblank geputzte Schuhe mit hohen Absätzen. Und alle strebten hastig in die gleiche Richtung. Warum sich hier derart viele Menschen versammelten, war Nakata ein Rätsel.
Kurze Zeit später kamen die beiden jungen Frauen mit einem großen Mann in weißem Hemd und gestreifter Krawatte zurück, den sie Nakata vorstellten.
»Das ist Herr Tougeguchi. Er fährt gleich mit dem Wagen nach Yokohama. Er ist bereit, Sie mitzunehmen, Herr Nakata. Er lässt Sie dann am Parkplatz Kohoku an der Tomei-Autobahn raus, und Sie suchen sich dort einen anderen Wagen für die Weiterfahrt. Dem Fahrer sagen Sie, dass Sie nach Westen möchten, und wenn jemand Sie mitnimmt, spendieren Sie ihm zum Dank an einer Raststätte ein Essen. Verstehen Sie?«, sagte das Mädchen mit dem braunen Haar.
»Haben Sie denn genug Geld?«, fragte die Schwarzhaarige.
»Ja, Nakata hat genug Geld dabei.«
»Hören Sie, Herr Tougeguchi, Herr Nakata ist ein guter Bekannter von uns, also seien Sie bitte nett zu ihm«, sagte die Braunhaarige.
»Wenn ihr auch ein bisschen nett zu mir seid«, sagte der junge Mann etwas schüchtern.
»Irgendwann mal«, sagte das schwarzhaarige Mädchen.
Zum Abschied schenkten die beiden Nakata ein Päckchen mit Reishäppchen aus dem Supermarkt und etwas
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