Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
glaubte, keine anderen Bedürfnisse hatte als ein sauberes, ruhiges Zimmer und die tägliche Portion frisches Gemüse. Ernst Weiß hatte den Neubeginn gewagt ohne solche Sicherheiten.
Auch die Frage des Wohin bedurfte keiner tiefschürfenden Analyse. Kafka war österreichischer Jurist mit Spezialkenntnissen in Technik, Versicherungswesen und Verwaltung. Chancen, aus diesem Wissen den Lebensunterhalt zu bestreiten, boten sich außer in Prag im Grunde nur in Wien: in einer ihm von jeher unheimlichen, von Todesphantasien imprägnierten Stadt, deren Bild jetzt überdies bis zum Ekel verzerrt war durch die lebhaften Erinnerungen an einen von Schmerz, Depression und Schlaflosigkeit gefolterten Kopf. Wien war Vergangenheit, war eine Art vergrößertes, ungemütliches Prag, Berlin {459} aber war fremd, erregend, zukünftig: Das hatte ja selbst Brod schon ganz zu Beginn seiner literarischen Laufbahn erkannt, obwohl er damals, 1906, der impressionistischen Literatur Wiens viel näher gestanden hatte. Dort unten aber, in jenem »absterbenden Riesendorf«, schienen die Karten jetzt endgültig verteilt; die Literaten stritten um das Erbe, verzehrten sich in Revierkämpfen, wer nicht für Karl Kraus war, war gegen ihn, und auf Parteilose hörte niemand.
In einer dialogischen Tagebuchaufzeichnung, in der die Selbstprüfung die Form des inneren Verhörs annahm, zog Kafka sehr nüchtern die Konsequenzen:
»Ich muss also ausserhalb Österreichs und zwar, da ich kein Sprachentalent habe und körperliche sowie kaufmännische Arbeit nur schlecht leisten könnte, wenigstens zunächst nach Deutschland und dort nach Berlin, wo die meisten Möglichkeiten sind, sich zu erhalten. Dort kann ich auch im Journalismus meine schriftstellerischen Fähigkeiten am besten und unmittelbarsten ausnützen und einen mir halbwegs entsprechenden Gelderwerb finden. Ob ich etwa gar noch darüber hinaus fähig zu inspirierter Arbeit sein werde, darüber kann ich mich jetzt auch nicht mit der geringsten Sicherheit aussprechen. Das aber glaube ich bestimmt zu wissen, dass ich aus dieser selbstständigen und freien Lage, in der ich in Berlin sein werde, (sei sie im übrigen auch noch so elend) das einzige Glücksgefühl ziehen werde, dessen ich jetzt noch fähig bin.« [434]
Nach Berlin also. Doch wer kannte ihn dort? Ein paar Autoren, die selbst hungerten. Die Zeitungs- und Verlagsleute hingegen, die Szene der ›Multiplikatoren‹, war hier verwöhnt und nur schwer zu beeindrucken, schon gar nicht durch Gerüchte aus der österreichischen Provinz, wo doch, wie sie sehr wohl wussten, beinahe alles gedruckt wurde, was reimen konnte. In Berlin musste man die richtige Parole kennen, man musste sich zeigen, ins Gespräch kommen, und am allerbesten war eine Veröffentlichung, die den eigenen Namen sichtbar heraushob aus dem Gewimmel ›vielversprechender‹ Talente.
Der Ratschlag, den Brod, Pick und Weiß dem ewig zaudernden Kafka erteilten, ist nicht schwer zu erraten: Wenn schon dein großer Roman nicht fertig wird, dann hol endlich DIE VERWANDLUNG aus der Schublade. Ein Dreivierteljahr schon war es her, dass Kafka seinem Verleger versprochen hatte, eine brauchbare Satzvorlage, das heißt ein Typoskript der Erzählung anzufertigen, und Kurt Wolff hatte verbindlich zugesagt, DAS URTEIL, den HEIZER und DIE VERWANDLUNG in einem Band zu vereinigen, der ganz für sich stehen sollte, unabhängig {460} von den Talentproben des ›Jüngsten Tages‹. DIE SÖHNE hatte sich Kafka als Titel gewünscht. Doch weder hatte er sich um den Fortgang dieses Projekts ernsthaft bemüht, noch hatte Wolff je wieder von sich hören lassen. Eine missliche Situation: Der Verleger schien desinteressiert, der Autor aber fühlte sich durch den eigenen Vorschlag gebunden. Nun aber, zurück aus Italien und zu einem Befreiungsschlag entschlossen, hatte es Kafka eilig.
Er liebte DIE VERWANDLUNG nicht, und je länger er sich mit Maschinenabschrift und Korrekturen beschäftigte, desto deutlicher standen ihm die Spuren vor Augen, welche die nervenzerrüttenden Umstände des Schreibprozesses hinterlassen hatten. Jede Unterbrechung schien ihm eingraviert in den Textkörper, Verletzungen, die jedem in die Augen sprangen. Beinahe mit Selbstneid dachte er an DAS URTEIL, das in einem Schwung entstanden war; Kafka schloss daraus, dass er dieses Juwel nicht besser hätte machen können. DIE VERWANDLUNG hingegen blieb hinter diesem Inbegriff der Perfektion zurück. »Grosser Widerwillen«, notierte er
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