Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
beantwortete. Ausdrücklich bittet er sie, ihm doch lieber ein Kärtchen mit einem einzigen Satz zu senden als gar nichts – er will Kontinuität, Beständigkeit, eine Forderung, die er gegenüber Felice niemals hatte durchsetzen können. Zu spät freilich wurde Kafka bewusst, dass der lebendige Funke, der aus den Wiener Briefen übersprang, nur um den Preis einer unablässigen Beunruhigung {476} zu haben war, und diese Unruhe wiederum kostete Kraft. Denn einerseits bestärkte Grete Bloch ihn darin, endlich die Initiative zu ergreifen und die Ehe Wirklichkeit werden zu lassen – im selben Atemzug aber rührte sie an Verdrängtes, und sie nötigte Kafka, Sehnsüchte einzugestehen, von denen er seit Monaten den Blick zwanghaft abwandte. Entweder als Junggeselle und Literat in Berlin, frei in jedem Sinne des Wortes, oder aber als Ehemann und Ernährer Felices in Prag: Waren denn das wirklich die beiden einzigen Alternativen, zwischen denen er hatte wählen können? War es denn so gänzlich ausgeschlossen, fragte Grete Bloch scheinbar naiv, zu heiraten und dennoch nach Berlin zu gehen, dennoch das Schreiben zum Beruf zu machen? Unmöglich, antwortete Kafka rasch; schließlich sei es Felice nicht zuzumuten, ihre gut bezahlte Stellung zu kündigen, um dann mit ihm in derselben Stadt womöglich in Armut zu leben.
Das klang vernünftig und selbstlos. Der Stachel aber saß fest. Warum war es nicht Felice, die ihm solche Fragen stellte? Ging es sie nicht viel näher an? Hatte sie überhaupt einen Begriff davon, was es für ihn bedeutete, für alle Zeit in Prag festzustecken? Und lag hier womöglich der Grund dafür, dass sie auch gegenüber der Freundin schwieg, wollte auch Felice nicht gestört sein von Sehnsüchten und utopischen Einreden?
Kafka wankte, und vorsichtig zunächst, dann immer bestimmter begann er zu rütteln an jenem bleiernen Entweder-Oder, dem er sein Leben in Verzweiflung unterworfen hatte. Gewiss, es war notwendig zu heiraten, notwendig und richtig. Doch daraus folgte noch längst nicht die Notwendigkeit, erbarmungslos und ohne Seitenblick ein Programm abzuspulen, das für Familien geschaffen schien, nicht für Menschen, auch wenn sich Felice dem nur allzu bereitwillig unterwarf. Es gibt Wünsche, die man nicht töten kann. Ist es also richtig, diese Wünsche lebendig zu begraben, ist es mit Liebe zu vereinbaren, dies von einem Menschen zu verlangen? »das Wichtigste ist nicht, dass ich in Prag schreibe«, gesteht er Grete Bloch am 4.Juni, zu einem Zeitpunkt, da längst alles beschlossen scheint, da längst eine Wohnung gemietet und die Vorbereitungen für Felices Umzug in vollem Gange sind, »das Wichtigste ist, dass ich von Prag wegkomme.« Er weiß, damit ist der Pakt schon beinahe gebrochen. Doch noch Monate sollte es dauern, ehe er diese Wahrheit auch gegenüber Felice einzugestehen vermochte: {477}
»Am entsprechendsten und natürlichsten für meine Arbeit wäre es allerdings gewesen, alles wegzuwerfen und irgendwo eine Wohnung noch höher als im 4ten Stock zu suchen, nicht in Prag, anderswo, aber allem Anschein nach bist weder Du geeignet im selbstgewählten Elend zu leben, noch bin ich es. Vielleicht bin ich dazu sogar noch weniger geeignet als Du. Nun, wir haben es noch keiner erprobt. Erwartete ich also etwa diesen Vorschlag von Dir? Nicht geradezu; ich hätte zwar nicht gewusst was tun vor Glück über einen solchen Vorschlag, aber erwartet habe ich ihn nicht.« [451]
Versucht man, einen Überblick zu gewinnen über die verschlungene Korrespondenz Kafkas und Felice Bauers, von September 1912, dem ersten Anklopfen, bis zum Berliner ›Empfangstag‹, der offiziellen Verlobungsfeier an Pfingsten 1914, so steht man zunächst vor dem Schauspiel einer ungeheuren emotionalen wie geistigen Dünung. Es ist das Motiv der Wiederholung, das jede andere Wirkung überschattet: eine Art von minimal music , in der das Neue mittels mikroskopischer Variationen ans Licht tritt, während das Alte doch immerzu hörbar bleibt. Erregend, unwiderstehlich ist diese Lektüre dennoch, vor allem wegen Kafkas metaphorischem Reichtum und wegen seines Humors, der selbst in den Augenblicken vollständiger Erstarrung nicht gänzlich ausgelöscht scheint. Doch die Erfahrung einer gleichsam ansteckenden Qual überwiegt, und sie vervielfacht sich, sobald man die Briefe nicht ›trinkt‹, wie Kafka dies gerne mit Briefen tat, sondern durchsiebt als Rohstoff biographischer Spurenlese.
Woher aber rührt diese mitempfundene
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