Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
[450] Kein Wunder, denn dies war ihre Lieblingsrolle. Verbindlichkeit, Aufmerksamkeit, eine gegenüber Onkeln, Tanten und Schwägerinnen gleichmäßig ausgestreute Heiterkeit, das war schon beinahe Routine. Nicht das Geringste war zu spüren von der Trauer um den verlorenen Bruder, von dem Schock, der die Bauers noch immer lähmte. Und noch viel weniger ließ Felice sich anmerken, wie langweilig sie Kafkas Schwestern fand, wie bieder die ganze Familie. Die Kostproben ›Berliner Schnauze‹, die sie zum Besten gab, ihre städtischen, freien Bewegungen, ihre elegante Kleidung, ihre scheinbare Unabhängigkeit – das alles hinterließ Eindruck, und Kafka, der stolz war, aber nur schwer mithalten konnte, wirkte wohl ein wenig linkisch neben seiner Verlobten. Sodass mancher sich insgeheim gefragt haben wird, wie dieser Sonderling zu einer solchen Frau kam: zu dieser Frau, die sich entschlossen hatte, Felice Kafka zu heißen.
Er spürte, hier wurden neue Leimruten ausgelegt. Zu viele Augen waren es, die jetzt in die intimsten Winkel seiner Existenz starrten. Dutzende von Gratulationsschreiben trafen ein: von Freunden, Kollegen, Geschäftsleuten, entfernten Verwandten; einige las er verdrießlich, die andern verschwanden ungeöffnet in der Schublade. Bei Direktor Marschner hatte er vorzusprechen, um sich auch den Segen der ›Anstalt‹ zu holen. Und schließlich, vielleicht das Schlimmste: Er musste den eigenen Namen und den Felices auf eine Prager Inseratenseite setzen, Rubrik ›Familien-Nachrichten‹. Ja, er wusste, auch dies gehörte zum Eheprogramm: Wer einen guten Namen hatte, war verpflichtet, ihn bei gewissen Anlässen sehen zu lassen. Dennoch zögerte er, suchte nach Ausflüchten. Endlich, am 21.April, riss er das Berliner Tageblatt auf und entdeckte das längst Erwartete und Gefürchtete. Man war ihm wieder einmal zuvorgekommen: »Die Verlobung ihrer Kinder Felice und Franz zeigen ergebenst an: Carl Bauer und Frau Anna, geb. Danziger, Hermann Kafka und Frau Julie … « Darunter: »Felice Bauer. Dr.Franz Kafka. Verlobte. Empfangstag Pfingstmontag, 1.Juni.« Er musste es glauben. Da stand es schwarz auf weiß, es war die Wirklichkeit. Doch diese vielen Namen … was gingen sie ihn an? »Dr.Franz Kafka«, war drei Tage später im Prager Tagblatt zu lesen, »Vize-Sekretär der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt in Prag, hat sich mit Fräulein Felice Bauer aus Berlin verlobt.« Punktum.
Es lässt sich nicht schildern, doch unschwer erahnen, welches Maß an psychischer Energie der plötzliche Umschlag der Imagination in Realität von Kafka forderte. Doch jene innere Frontlinie des Realitätsprinzips, die er jetzt Tag und Nacht zu bewachen hatte, war zu lang, um Einbrüche gänzlich zu vermeiden. Zu vieles gab es, das unausgesprochen blieb und gerade darum eine unbeherrschbare und überraschende Wirkung entfaltete.
So hatte etwa die auffallende Beharrlichkeit, mit der jetzt Kafka die Braut zur Selbstprüfung aufrief, noch einen geheimen und durchaus aggressiven Hintersinn. Er hatte sich, indem er die Entscheidung nach Berlin delegierte, für einen bedeutsamen Augenblick in Felices Hand begeben, während gleichzeitig Musil ihm die verlockendsten Trauben vors Gesicht hielt. Er hatte nicht zugegriffen, er hatte verzichtet, er hatte das Bewerbungsschreiben, das schon im Umschlag steckte, vernichtet. Dies war ein Opfer. Und darum wollte er nun aufs genaueste wissen, wofür .
Unausgesprochen blieb auch, dass es keineswegs die um Aussteuer und Wohnungssorgen kreisenden Briefe Felices waren, aus denen Kafka jetzt Kraft schöpfte, sondern die regelmäßige Korrespondenz mit Grete Bloch. Mit fast unbeherrschter Dringlichkeit bittet er sie, dabei zu sein in den lebensentscheidenden Momenten, die ihm noch bevorstehen. Ja, allen Ernstes schlägt Kafka vor, die strenge Frau Bauer und alle weiteren neugierigen Besucher in Prag zurückzulassen und mit Felice und Grete einen schönen Tag in Gmünd zu verbringen, drei Bahnstunden weiter südlich. Wochenlang hält er fest an diesem Traumbild, und nur flüchtig streift ihn der Gedanke, dass es den neuen wie den alten Verwandten angesichts solcher Frechheit wohl die Sprache verschlagen würde – ein Affront, eine Missachtung des ›Gegebenen‹, zu der sich die familientreue Braut natürlich nicht bereit fand.
Wie abhängig Kafka mittlerweile von jener zweiten weiblichen Kraftquelle war, zeigt schon die Pünktlichkeit, mit der er die Briefe Grete Blochs erwartete und
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