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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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»Arztes« lieber den »hygienischen Ratgeber« setzt, um Schadenersatzklagen vorzubeugen). [456]   Auch hier schießt der Impuls, den Körper in die eigene Verantwortung zu nehmen, sichtbar über das Ziel einer heilerischen Vernunft hinaus: Es geht um Kontrolle und Autonomie. Und darum ist es nicht etwa nur unvernünftig, sondern ›unwürdig‹, sich auf Ärzte zu verlassen – Kafka leuchtete das seit langem ein, und nicht erst seit seinem Aufenthalt im Sanatorium Jungborn, dessen Begründer ebenso dachte.
    Noch viel auffälliger freilich ist jene Überdeterminiertheit, sobald es um Hygiene im engeren Sinne geht, um die Abwehr von Schmutz. Dass aus unsauberen Verhältnissen Krankheiten hervorgehen können, war längst bekannt; seit der Entdeckung von ›Erregern‹ aber war es bewiesen, was Kafka einen Grund mehr lieferte, ›reinlich‹ zu sein. Alle zivilisationskritischen Bewegungen der Jahrhundertwende hoben die Notwendigkeit hygienischer Lebensführung hervor, die Naturheilkunde ohnehin, aber selbst Reformkleidung und vegetarische Ernährung wurden mit bakteriologischen Gründen verfochten. Das Begriffsfeld ›Sauberkeit–Reinheit–Ordnung‹ wuchs sich allmählich zu einer geistigen Formation aus, innerhalb deren sich die buchstäblichen und die metaphorischen Bedeutungen der Begriffe miteinander vermischten: Jemand, der ein ›reines‹ Leben führte … das konnte sehr vieles bedeuten, ja, es war sogar möglich – und Kafka hat dies später als »Eigentümlichkeit intensiv denkender Menschen« bezeichnet –, dass jemand schmutzig und rein zugleich war. [457]   Man musste eben wissen, wie es gemeint ist und wo innerhalb des weitläufigen Bedeutungsfelds man sich jeweils befand. Schmutzig waren Arbeiterkinder, doch ebenso Prostituierte. Vor allem die beständige, teils versteckte, teils offene Einbeziehung sexueller Nebenbedeutungen machte es beinahe unmöglich zu unterscheiden, was innerhalb jenes Begriffsfelds noch vernünftig vertretbar und was pure Ideologie war. Über Geschlechtskrankheiten und deren Abwehr durch ›Sauberkeit‹ konnte man so nachdrücklich aufklären, dass noch dem Letzten die Lust verging. Der {482} Hygieniker war überall zuständig. Und so wunderte sich wohl auch niemand darüber, dass der Turnlehrer Müller seine ›Original J. P. Müller-Sandalen‹ anpries und im selben Atemzug sein nächstes Buch über GESCHLECHTSMORAL UND LEBENSGLÜCK.
    Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass es Kafkas Angst um sein poröses Ich war – mithin Angst vor Entgrenzung, Verflüssigung, letztlich Todesangst –, die ihn allmählich zu einer asketischen Strategie des Überlebens drängte. Nicht zu rasch sollte man hier den sexuellen Anteil dieser Angst zum eigentlichen Movens erklären. Gewiss, sexuelle Begegnungen versprechen die intensivsten Entgrenzungserfahrungen, und es liegt darum nahe, Kafkas Askese als ein Ausweichen zu deuten, als einen ins Positive gewendeten sexuellen Verzicht, letztlich als Rationalisierung eines Unvermögens. Diese Strategie, aus etwas Erlittenem etwas Gewolltes zu machen und damit aus der Rolle des Minderwertigen herauszutreten, lässt sich bei Kafka in den verschiedensten Zusammenhängen beobachten. Als Generalschlüssel taugt diese Erklärung jedoch nicht. Denn selbst dann, wenn der erste Impuls, der Kafkas asketische Wahl bestimmt hat, unbewusste Sexualangst gewesen sein sollte, so ist darum noch längst nicht die Konsequenz plausibel gemacht, mit der er sein Leben lang an dieser Wahl festhielt, und noch viel weniger der Erfindungsreichtum, mit dem er einen Lebensbereich nach dem anderen – und endlich sogar die Literatur – einer asketischen Form unterwarf. Zu schweigen davon, dass er manifeste, bedrängende Sexualangst erst erlebte, als das asketische Selbstbild längst vollendet war.
    Nein, Kafkas Angst war umfassender, und sie war durchaus berechtigt: unbeherrschbare Stimmungsschwankungen, Zwangsphantasien, überwältigende Tagträume, wie Flammen ins Bewusstsein schießende Triebimpulse, äußere Impressionen, die das Ich für Stunden überfluten – Kafka war sich völlig im Klaren darüber, dass er in extremen psychischen Erfahrungen lebte, die so gut wie allen Menschen, denen er je begegnet war, völlig fremd blieben und die daher in gewissem Sinne nicht normal waren. Gerade darum aber waren sie auch nur schwer mitteilbar. Um andere davon zu überzeugen, wie nahe er dem Wahnsinn schon gewesen war, hätte Kafka sich in solchem Maße

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