Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
es zu erfahren. Doch es bedarf gehöriger Distanz, um zu erkennen, wo die entscheidenden Strömungen sind: tief unten.
Kafka selbst bestritt, dass seine Briefe aus Wiederholungen bestehen. Im Geheimen habe sich sehr wohl Entscheidendes verändert, behauptete er an Neujahr 1914, und sein zweiter Heiratsantrag sei daher ernster zu nehmen als sein erster:
»Was mich gehindert hat, war ein erdachtes Gefühl, im vollständigen Alleinsein liege eine höhere Verpflichtung für mich, nicht etwa ein Gewinn, nicht etwa eine Lust (wenigstens nicht in dem Sinne Deiner Meinung) sondern Pflicht und Leid. Ich glaube gar nicht mehr daran, es war Konstruktion, nichts sonst, (vielleicht hilft mir die Erkenntnis auch weiter) und sie ist höchst einfach widerlegt dadurch, dass ich ohne Dich nicht leben kann. […] Auf meiner Seite war niemals ein ›Verlust‹ in Frage, nur ein ›Hindernis‹ und dieses Hindernis besteht nicht mehr.« [453]
Schon hier, zwei Monate vor der Unterwerfung im Berliner Tiergarten, ist er bereit, die eigenen Fundamente anzutasten. Noch ahnt Kafka nicht, an welchem Tiefpunkt der Selbsterniedrigung dieser Versuch enden wird. Er täuscht sich, wenn er Leben gegen Denken ausspielt. Es steht mehr auf dem Spiel als bloße »Konstruktionen«, die als Phantasiegebilde ebenso leicht zu errichten wie aus dem Weg zu räumen sind, nein, es steht weit mehr auf dem Spiel – dies wird am Ende, und zu einem hohen Preis, der Erkenntnisgewinn des Jahres 1914 sein.
Der Einsatz, um den es hier tatsächlich ging, hatte einen Namen, den Kafka nur selten aussprach: Askese, ein Zauberwort, ein verwickelter Komplex von Bildern, kulturellen Mustern, Idiosynkrasien, Ängsten und raffinierten Psychotechniken, den er dem eigenen Denken und Fühlen nahtlos einverleibte und allmählich zu einer Kernzone seiner Identität machte. Durchaus zu Recht attestierte er sich »grossartige eingeborene asketische Fähigkeiten« [454] , und es ist verblüffend und steht in schroffem Widerspruch zu Kafkas angeblicher Willensschwäche, mit welcher Beharrlichkeit und Konsequenz er seit dem Ende der ›Bummeljahre‹ sein Leben unter das Gesetz des Verzichts und der allseitigen Vereinfachung stellte: Verzicht auf Wärme, auf Fleisch, auf Drogen, auf Medikamente. Reduktion der Nahrungsaufnahme, Abhärtung des Körpers, Schlichtheit des Wohnens. Eine zunächst negativ bestimmte Askese, ein hartnäckiges, bisweilen pedantisches Weglassen , das hinter seinem Rücken belächelt und vom Vater mit verächtlichen Kommentaren bedacht wurde, ohne dass die einmal eingeschlagene Richtung dadurch im mindesten beeinflusst worden wäre.
Doch Askese ist kein Sparprogramm um seiner selbst willen; sie ist vor allem eine Praxis der Selbststeuerung und Selbstformung, hinter der die Utopie einer vollkommenen Kontrolle über Leib, Ich und Leben wirkt: Dieses Kraftfeld war es, in das Kafka allmählich immer tiefer eintauchte und nach dem alle seine Interessen, Gewohnheiten und Vorlieben sich ausrichteten. Der Verzehr von Nüssen und Früchten, das einwandfreie Kauen, die umfänglichen Turnübungen, die langen Fußmärsche – es wäre eine naive, beinahe komische Rückprojektion heutiger Fitness-Ideale, würde man aus Kafkas Sorge um den eigenen Körper den Schluss ziehen, er habe in irgendeinem Sinne ›abnehmen‹ wollen. Wahr ist eher das Gegenteil: Kafka expandiert, indem er seinen Körper behandelt und formt, er gewinnt Kontrolle nicht nur über den Körper selbst, sondern auch über dessen innere Wahrnehmung, über die Art und Weise, wie er in seinem Körper heimisch oder fremd ist. Und er fühlt wachsende Abneigung, ja Hass gegen alles, was die erreichte Autonomie wieder in Frage stellt: gegen ahnungslose Ärzte, die sich seinem Körper mit der Haltung von Klempnern nähern, gegen Medikamente, die unvorhersehbare Wirkungen entfalten. Menschenunwürdig sei es, schimpft Kafka, etwa Schlaflosigkeit mit Baldrian zu bekämpfen: Schließlich schlafe er nicht deshalb schlecht, weil er nicht genügend Baldrian im Leib habe. [455]
Der Überschuss ideeller Erregung, den Kafka hier gegen eine harmlose Tasse Baldriantee richtet, ist durchaus zeittypisch, und ähnliche Ausfälle findet man in zahlreichen Veröffentlichungen zu Naturheilkunde und Diätetik. »Wenn ein Mann dreißig Jahre alt geworden ist, ist er entweder ein Idiot oder sein eigener Arzt«: ein Satz des Tacitus, den Kafkas Vorturner Müller mit Begeisterung zitiert (obwohl er an die Stelle des
Weitere Kostenlose Bücher