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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Qual? Ist es die Scham des Voyeurs, welche die Briefe in jedem Leser wecken? Das Verhängnis, die Hilflosigkeit und das Scheitern, deren intime Zeugen wir werden? Gewiss, hier bewegen sich Menschen entlang den Abgründen einer psychosozialen Pathologie. Doch jenes beharrliche Auf-der-Stelle-Treten, die Verdrängungen, das Ineinandergreifen von Berechnung und Gefühl, die Regressionen, das Zurückweichen bei wechselseitigen Versuchen der Annäherung, die Selbstbezüglichkeit, die befremdend würdelosen Auftritte, ja selbst die Fiktionalität, das Nicht-gelebt-Sein der Beziehung – all dies sind schließlich Erscheinungen, die keineswegs selten, die zumindest in den bürgerlichen Gesellschaften mit ihrem extrem verpflichtenden Liebesideal vertraut und an der Tagesordnung waren. Heutzutage, so scheint es, steht die Intimität, um die da gekämpft wurde, nicht selten am Beginn einer Beziehung – auch wenn die Vertrautheit, die durch sexuelle ›Kontakte‹ relativ leicht zu haben {478} ist, nur noch eine Schwundstufe dessen ist, was jenes Liebesideal einst versprach. Gewiss, seit Sexualität weitgehend enttabuisiert wurde, bedarf es schon der historischen Einfühlung, um zu verstehen, warum die Beteiligten es sich derart schwer machten. Der Umkehrschluss aber, ein solches Drama sei undenkbar in einer liberalisierten, hedonistischen Gesellschaft, wäre allzu naiv. Wiederholungszwänge, Regressionen, wechselseitige Entfremdungen und Verkennungen, die Unwirklichkeit von Beziehungen – all dies gibt es auch mit und neben Sexualität, und umso regelmäßiger, je verblendeter sie als Instrument, wenn nicht gar als Ersatz ersehnter Geborgenheit überfordert wird. Die inmitten selbstvergessener Lust aufreißende Leere ist darum längst zu einem Kernthema der zeitgenössischen Literatur geworden.
    Nein, die BRIEFE AN FELICE sind durchaus nicht die Zeugnisse eines singulären, nach dem Ohr des Analytikers rufenden Falls. Die Abwehr, ja der Widerwille, den die Lektüre jenseits allen Mitgefühls hervorzurufen vermag, rührt eher aus dem Medium selbst: aus der konsequenten Verschriftlichung von Vorgängen, die mehr oder minder vertraut sind, so lange sie mündlich, in Blicken, Gesten oder von Leib zu Leib sich abspielen. Es ist der Horror, der Gerichtsakten entströmt: Wie eine Lupe wirkt hier die Schrift, sie versetzt das Lebendige in eine Nähe, die es unheimlich und in gewissem Sinne tot macht: Haut, an der man Poren und Härchen zählt. Zugleich aber starren wir auf die Schrift wie auf einen Film, der in Zeitlupe läuft. Es gibt Briefe Kafkas, in denen seelische Schwankungen nicht nur in Echtzeit, sondern tatsächlich noch weiter verlangsamt erscheinen, und für ihn selbst barg dies bisweilen unheilvolle Verstärkereffekte: Er konnte nachlesen, was ihn soeben flüchtig gestreift hatte, er konnte es zitieren, wiederholen, so lange, bis es sich eingegraben hatte, bis er es auswendig wusste – und wir mit ihm.
    Nicht in das Wort, aber in die Schrift hatte Kafka beinahe unbegrenztes Vertrauen. Es gab Vorbilder. Bereits im Frühjahr 1913 fragt er Felice, ob sie den berühmten Briefwechsel zwischen Elizabeth Barrett und Robert Browning kenne, und noch zwei Jahre später fordert er sie dringlich zur Lektüre auf. [452]   Eine umfängliche deutschsprachige Auswahl dieser Briefe war bereits 1905 erschienen, gelesen hat sie Kafka wohl erst 1912. Sie müssen ihn elektrisiert haben, denn sein eigenes Projekt wurde hier vorweggenommen: ›ein Mädchen durch die Schrift zu binden‹. Auch Barrett und Browning, die Dichterin und der Dichter, {479} lernten einander durch Briefe kennen und lieben, und am Ende wagten sie die heimliche Heirat, Flucht aus England und eine materiell ungesicherte Ehe in Italien, fernab ihrer Familien. Allerdings, eine entscheidende Differenz übersieht oder verschweigt Kafka. Denn jene rhetorisch polierten Briefe dienten keineswegs dazu, persönliche Begegnungen zu ersetzen , vielmehr, sie zu entschärfen, sie vor- und nachzubereiten. Bald schon kam es zu regelmäßigen wöchentlichen Besuchen, die, bei aller viktorianischen Vorsicht, der Beziehung zur Realität verhalfen. Robert Browning zählte akribisch mit: Neunzigmal sah er seine Freundin innerhalb von sechzehn Monaten, beim 91. Mal tauschte er mit ihr die Ringe. Kafka hingegen zählte nicht, und er tat gut daran.

    Ein Meer von Worten. Ein diskursiver Wellenschlag, scheinbar ohne Anfang, ohne Entwicklung, ohne Ende. Man muss sich darauf treiben lassen, um

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