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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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eigene Existenz in einem einzigen großen Entwurf zu bergen und damit Selbstgewissheit zu schaffen – nicht nur das Zutrauen, das eine feste Überzeugung einflößt, sondern Gewissheit seiner selbst .
    Man muss wohl den großen asketischen Selbstentwurf, den Kafka in den Jahren bis 1914 zu einer gewissen praktischen Vollendung führte, den er zunächst lebbar machte, um ihn dann allmählich reflexiv zu durchdringen und sprachlich zu bewältigen – man muss diese Selbsterfindung als die entscheidende psychische Leistung bewerten, die aus dem unauffälligen Prager Juden das unwiederholbare, unnachahmbare ›Phänomen Kafka‹ machte. Denn um eine Leistung handelte es sich, die geglückte Leistung umfassender psychischer Integration, durch {485} die Kafka nach und nach alle seine Lebensäußerungen einer gemeinsamen Leitidee dienstbar machte und so seinem Leben Gestalt verlieh.
    Bereits der Traum vom Schreiben in unterirdischer Abgeschiedenheit, jene Kellerphantasie, mit der Kafka die künftige Braut so nachhaltig irritiert hatte, war durchaus keine Laune, sondern ernst zu nehmen als Sinnbild, das Kafka dem eigenen zerfaserten Leben entgegenhielt. Literatur und Askese: diese Kombination war ja alles andere als zwingend, und weder Brod noch Werfel, noch Weiß vermochten recht einzusehen, warum gute Literatur unbedingt auf Kosten von schönen Frauen, intensiven Gesprächen und reichlichem Essen gehen sollte, ganz zu schweigen von der wahnwitzigen Idee, um des ungestörten Schreibens willen einen schalltoten Kellerraum zu bewohnen. Mit seiner immer deutlicher sich ausprägenden Vorstellung, ›reine‹ Literatur entstehe nur unter adäquaten, das heißt ›reinen‹ Bedingungen, isolierte sich Kafka im Kreis der Freunde. Doch gleichzeitig demonstrierte er, was ein auf Reinheit abzielender Stilwille zu leisten vermochte. Auch Brod musste anerkennen, dass die reine, schlackenlose, eben asketische Sprache, die Kafka anstrebte, keineswegs steril oder blutleer wirkte, sondern unerhörte ästhetische Energien freisetzte. Damit war der Nachweis erbracht, dass die Symbiose von Literatur und Askese durchaus nicht nur den Sinn hatte, einen psychischen Spalt zu schließen und zwei ›Interessen‹ Kafkas miteinander in Einklang zu bringen; vielmehr, dass diese Symbiose auch nach außen produktiv zu machen war – in atemberaubender Weise.
    Es ist sehr wahrscheinlich – wenngleich natürlich nur durch Indizien zu belegen –, dass es diese gelungene Integration aller Lebensäußerungen war, die Kafka letztlich vor psychischer Erkrankung und vorm Suizid bewahrt hat. Die gestraffte Haltung, der asketische Stil , mit dem er sich augenfällig von seiner Umgebung und vor allem von seiner Familie absetzte, ermöglichte ihm die Identifikation mit sich selbst und gewiss auch eine Art von narzisstischem Stolz, der die qualvollen Gefühle der Minderwertigkeit immer wieder ausbalancierte. Jedem Vorwurf, ob berechtigt oder nicht, konnte jetzt Kafka entgegenhalten: ›So bin ich nun mal, und ändern kann man einen Menschen nicht.‹ Auch Felice Bauer musste diesen Satz mehr als einmal hören, und dass Kafka gleichwohl zerknirscht und schuldbewusst blieb, musste ihr unbegreiflich erscheinen.
    Nicht zu übersehen ist andererseits, dass Kafka für diese Stilisierung {486} seiner Existenz einen enorm hohen Preis bezahlte. Hätte er sich damit begnügen können, die kleinbürgerlichen Ideale der Eltern, die dehnbar genug waren, in leicht aufgefrischter Form zu übernehmen, so wäre ein anständiges Leben schon hinreichend gewesen, um Anerkennung und damit wiederum Bewegungsfreiheit zu gewinnen. Kafka aber wollte ein reines Leben, und damit beraubte er sich jedes Spielraums, jeder Möglichkeit momentaner psychischer Entlastung. Denn Schmutz ist allgegenwärtig und Reinheit darum überaus anstrengend: Dies ist die unvermeidliche Kehrseite der Askese, die paranoide Konsequenz des Fundamentalismus, jene stählerne Rüstung, die dem Bewusstsein Haltung verleiht und es gleichzeitig zu Boden zieht. »In mir selbst gibt es ohne menschliche Beziehung keine sichtbaren Lügen«, notierte Kafka allen Ernstes. »Der begrenzte Kreis ist rein.« Und noch 1916 glaubte er, »reinbleiben« zähle zu den positiven, ja sogar zu den definierenden Eigenschaften des Junggesellentums, jener Lebensform also, die er früher als nichtig und gespensterhaft so gefürchtet hatte. [458]   Mit anderen Worten: Man muss, um rein zu bleiben, die Tore schließen. Die Rüstung

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