Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
entblößen und seinem sozialen Umfeld ausliefern müssen, dass die schwer erkämpfte Kontrolle wieder in Frage gestellt und eben dadurch die Angst noch gesteigert worden wäre. Ganz undenkbar, dass er sich je {483} den Manipulationen eines Psychotherapeuten ausgesetzt hätte: Er duldete nicht, dass andere den Meißel anlegten an jene Autoplastik , an der er selbst arbeitete. Einzig gegenüber Milena Jesenská hat er später seine basale Angst eingestanden und beim Namen genannt. Doch nicht einmal Max Brod erfuhr, wie es in Kafka tatsächlich aussah, und eine realistische Vorstellung davon bekam er wohl erst nach dessen Tod. Denn im Alltag verlegte sich Kafka ja gewöhnlich auf selbstironische Klagelieder und bot mehr als einmal das Bild ›komischer Verzweiflung‹: Das minderte den Mitteilungsdruck, verschleierte aber das tatsächliche Ausmaß der inneren Bedrohtheit. Dass tiefstes Leid sprachlos sei, ist soziale Übereinkunft; darum findet keinen Glauben, wer allzu nachhaltig jammert.
Häufig genug ist darauf verwiesen worden, Kafkas zentrale Lebenssorge sei eine spezifisch moderne ›Wurzellosigkeit‹ gewesen, ein gebrochenes Verhältnis insbesondere zum Judentum, das durch allgemeinen Traditionsverfall, allgegenwärtigen Antisemitismus sowie durch die eigentümlich insuläre Situation der deutschen Minderheit in Prag noch vielfach belastet worden sei. Das alles ist richtig, und seit seiner Begegnung mit den ostjüdischen Schauspielern hat Kafka sich selbst als einen in dieser Hinsicht geradezu modellhaften Fall gesehen: als Typus des freischwebenden Westjuden. Doch all dies traf ebenso gut auf Max Brod zu, der aus seinem ›Fall‹ ganz andere Folgerungen zog und einen psychischen Habitus entwickelte, der ihn von Kafka immer weiter entfernte. Brod war auf der Suche nach kulturellen und intellektuellen Inhalten , mit denen er sich identifizieren konnte, nach einer Weltanschauung, die ihn der letzten quälenden Zweifel entledigen würde. Förmlich mit aufgekrempelten Ärmeln bediente er sich aus der Fülle der Optionen, die sich ihm innerhalb und außerhalb des Judentums boten, er legte das eine beiseite, um das andere ergreifen zu können, und stets war er ganz bei der Sache – zumeist mehr, als seinen Freunden lieb war.
Kafka hingegen befand sich in der Situation eines Menschen, der nach sicherem Stand sucht, der beide Beine auf die Erde bekommen muss, ehe er die Hände gebraucht. Anders als Brod, der sich über Inhalte und Interessen definierte und der darum alles, was er für wahr hielt, verteidigte, als ginge es ums nackte Ich, hatte Kafka zunächst das Problem der richtigen Haltung zu lösen, die Frage nach der Form, die das eigene Leben am Leben erhält. Daher die scheinbare Wahllosigkeit, {484} mit der er in fremden Lebensläufen nach Schnittmustern suchte: Napoleon, Goethe, Berlioz, Grillparzer, Dostojewski … es konnte auch ein Pflanzer sein, der sich gegen den Urwald durchsetzte, eine Sozialistin, die sich von der eigenen Klasse emanzipierte, der Herausgeber einer Theaterzeitschrift, ein Zionist, ein Polarforscher, ein Anthroposoph: Überall suchte Kafka nach erfolgreichen Entwürfen, nach Strategien der Behauptung, und es war zunächst einmal nachrangig, worin sich jemand behauptete.
Gewiss, jede erfolgreiche oder auch nur ›unverrückbare‹ Weltanschauung vermag vor psychischem Zerfall zu bewahren; ebenso jedes Interesse, in dessen Dienst ein ganzes Leben gestellt wird. Kafka verspürte Hochachtung, wenn er Derartiges beobachtete, selbst dann, wenn es sich um schlichteste religiöse Überzeugungen handelte – wie im Fall der ostjüdischen Flüchtlinge, die er sehr bald erleben sollte – oder um offenkundige Verrücktheiten wie die private Kosmologie des Dichters Johannes Schlaf. Doch zu Recht hegte er Zweifel daran, ob derartige Konstrukte, die ja immer anfechtbar und im Grunde austauschbar sind, die innere Fragmentierung auf Dauer würden heilen können. Traditionen, Theorien, geistige Inhalte bewahrten doch letztlich vor gar nichts: Man konnte überzeugter Zionist sein und gleichzeitig ein Vereinsmeier, ein kleinlicher Geschäftsmann oder ein notorischer Bordellkunde. Man konnte ein Liebhaber der Literatur sein und gleichzeitig ein verbohrter Deutschnationaler, ein Ehetyrann oder eine hygienische Zumutung. Dagegen zielte die Form der Askese, für die sich Kafka letztlich entschied, gerade darauf ab, derartige Brüche bis hinab an ihre tiefsten Ursprünge zu verschließen, zu heilen , die
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