Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
flüstern wird man immer, die Türglocke wird läuten, gestern hat der Mieter zweimal gehustet, heute schon öfter, sein Husten tut mir mehr weh als ihm. Ich kann keinem böse sein, die Wirtin hat sich früh wegen des Flüsterns entschuldigt, es sei nur ausnahmsweise gewesen, weil der Mieter (meinetwegen) das Zimmer gewechselt hat und sie ihn in das neue Zimmer einführen wollte auch werde sie vor die Tür einen schweren Vorhang hängen. Sehr lieb, aber aller Voraussicht nach werde ich Montag kündigen.« [556]
Kafka war sich völlig im Klaren darüber – er sagt es ausdrücklich, in Brief und Tagebuch, aber die Komik seiner Darstellung erweist es schon deutlich genug – Kafka war klar, dass er nicht einem in Dezibel messbaren Geräuschpegel nachlauschte, sondern fremden Menschen: Seine Qual rührte vor allem daher, dass sein Radius der Intimität gestört und durchkreuzt wurde von Lebendigem. Gewiss, es war aussichtslos, einem Nichtschreibenden zu vermitteln, welcher Ruhe das Schreiben bedarf. Diese Ruhe aber hatte er auch bei den Eltern nicht gehabt, ja, selbst die Sanatorien, die er kannte, konnten für überirdischen Frieden nicht garantieren. Eigenartigerweise aber scheint Kafkas Wirtin um ihren so überaus nervösen Mieter gekämpft zu haben, denn, so berichtet er Felice, »fast jeden Morgen ist die alte Frau zu meinem Bett gekommen und hat mir neue Verbesserungsvorschläge zugeflüstert, mit denen sie die Ruhe in der Wohnung noch vermehren wollte« [557] . Es half alles nichts. Nach kaum einem Monat packte Kafka erneut den Koffer.
Lange Gasse 18, Haus ›Zum goldenen Hecht‹. Ein Eckzimmer im fünften Stock, mit Balkon, unmittelbar gegenüber der Wohnung, die er einst um Felices willen gemietet hatte und dann nur mit Mühe wieder losgeworden war. Für einen Augenblick war Kafka fast glücklich: von zwei Seiten Sonne und weite Aussicht über die Dächer der Altstadt; er hatte es nicht für möglich gehalten, dass solche Äußerlichkeiten allein schon die Brust weiteten und neue Hoffnung einflößten.
Dann aber begann jemand über seinem Kopf Kegel zu spielen: Eine schwere Kugel raste quer über die Zimmerdecke, krachte in die Ecke und rollte träge rumpelnd zurück. Kafka holte die neue Wirtin, deutete nach oben. Nun, sagte sie, dort seien die Dachböden, ansonsten nur noch ein Atelier, das aber nicht vermietet sei. Dort könne also gar nichts sein. Dann, antwortete Kafka, gehöre dieser Lärm offenbar zu den grundlosen und eben deshalb nicht zu beseitigenden Quälereien dieser Welt. Es war, als überreichte er eine Visitenkarte: Dr.Franz Kafka, Neurastheniker. Nun wusste man, woran man mit ihm war.
Doch auch für solche Menschen war vorgesorgt: mit ›Ohropax‹, einer Knetmasse zum Verstopfen des Gehörgangs, hergestellt von einer Firma in Berlin. Kafka bestellte eine Packung. Über seinem Kopf rollten weiter die Maschinenräder des Aufzugs. Zwei Jahre lang wird er dieses Zimmer bewohnen.
Vielleicht sollte man sich einen Hund anschaffen. Einen kleinen, treuen Hund, etwa in der Art des Foxterriers, der vor langer Zeit bei den Kafkas aufgefüttert worden war. Wer einen Hund hat, ist nicht gänzlich einsam. Ein Hund ist unterhaltsam und stets dankbar. Allerdings hat ein Hund auch Nachteile. Dass er Schmutz mit ins Zimmer bringt, ist unvermeidlich, denn man kann ihn nicht fortwährend baden. Auch werden Hunde gelegentlich krank, was in jedem Fall lästig, im schlimmsten Fall aber ekelerregend ist. Und selbst wenn er gesund bleibt, wird er eines Tages alt sein. »Dann muss man sich aber mit dem halbblinden, lungenschwachen, vor Fett fast unbeweglichen Tier quälen und damit die Freuden, die der Hund früher gemacht hat, teuer bezahlen.« [558]
Reflexionen eines ›älteren Junggesellen‹. Blumfeld ist sein Name, und erfunden hat Kafka ihn im Februar 1915, als letzten Versuch, neuen Schwung zu holen, als das für lange Zeit letzte Modell jener windigen, leeren Existenzen, die er – seit dem URTEIL – vor sich selbst als Drohung errichtete. Blumfeld ist ein Scherenschnitt-Porträt seines Autors (wenngleich er im sechsten Stock haust, vielleicht in einem bisher unbewohnten Atelier), zugleich aber ist er der Schatten des Josef K. (dessen Name auch prompt im Manuskript auftaucht, eilig gestrichen). Denn wie der Angeklagte im PROCESS sich in endlosen Überlegungen über das Wesen des Gerichts ergeht und darin sein Leben verbraucht, so folgt Blumfeld den Verästelungen eines möglichen {592}
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