Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Felice sich in eine derartige Lage begeben, wäre sie zu Zärtlichkeiten nicht bereit gewesen. »Wie brav wir hier beisammen sind«, sagte sie nach einer Weile. Das war kein Satz, das war eine Geste, die beinahe schon Ungeduld verriet. Weiter konnte eine Dame nicht gehen. Aber Kafka schwieg und rührte sich nicht. Er fühlte keine Nähe, kein Begehren. Er fühlte Leere. Diese Frau – so hatte er es einmal im Tagebuch konstatiert – war der »fremdeste Mensch«, mit dem er je zusammengetroffen war. Und hier, in der Intimität des geschlossenen Raums, erfuhr er die Bestätigung, die ernüchternder nicht sein konnte.
»Um mich herum nur Langeweile und Trostlosigkeit. Wir haben mit einander noch keinen einzigen guten Augenblick gehabt, während dessen ich frei geatmet hätte. Das Süsse des Verhältnisses zu einer geliebten Frau wie in Zuckmantel und Riva hatte ich F. gegenüber ausser in Briefen nie, nur grenzenlose Bewunderung, Unterthänigkeit, Mitleid, Verzweiflung und Selbstverachtung. Ich habe ihr auch vorgelesen, widerlich giengen die Sätze durcheinander, keine Verbindung mit der Zuhörerin, die mit geschlossenen Augen auf dem Kanapee lag und es stumm aufnahm.« [555]
Man ahnt, wie es hinter jenen Lidern aussah. Felice Bauer war müde. Sie hatte die Nacht mit Reisevorbereitungen zugebracht, sie hatte eine lange Zugfahrt hinter sich. Vielleicht wollte auch sie etwas wieder gutmachen, {589} und was sie noch vor wenigen Monaten bis zur Wut gereizt hatte, erschien nach dem Tod des Vaters in milderem Licht. Doch jetzt, hier, in diesem Hotelzimmer, fand sie alles unverändert. Der Mann, mit dem sie einst Verlobung gefeiert hatte, blieb ungreifbar, opak, eine körperlose Stimme. Und wenn sie die Augen schloss, war es, als werde ihr ein Brief vorgelesen.
Auch die Legende vom Türhüter las Kafka, das Herzstück des PROCESSES. Es ist die Geschichte eines Mannes, der sein ganzes Leben vor dem Eingang des ›Gesetzes‹ verbringt und vergeblich auf die Erlaubnis zum Eintritt wartet – um am Ende zu erfahren, dass dieser Eingang allein für ihn bestimmt war. Felice hörte aufmerksamer zu. Vielleicht verstand sie jetzt, warum Kafka immer von der »Wahrheit« sprach, die eine Geschichte haben müsse, auch wenn man diese Wahrheit nicht eindeutiger formulieren konnte als die Geschichte selbst. Stand nicht auch er vor einem Tor, das einladend offen war? Kein Türhüter weit und breit. Und doch trat Kafka nicht ein. Stattdessen las er eine Geschichte vor, von Eingängen, Türhütern und vergeblichem Warten.
10.Februar 1915: Wieder stapelte Kafka sorgfältig Wäsche, Bücher und Manuskripte in seinen Koffer. Die schöne, stille Wohnung Ellis wurde von der Familie reklamiert, seit Tagen schon war er auf der Suche nach einer neuen Bleibe, endlich hatte sich ein Zimmer in der Innenstadt gefunden, in einem Haus, das er seit langem kannte: Bilekgasse 10, die Adresse Vallis und ihres geräuschvollen Ehemannes Josef Pollak.
Zum allerersten Mal lebte damit Kafka als Mieter ; und genau besehen hatte sich seine Existenz um einen weiteren, denkwürdigen Schritt der Unbehaustheit seines Protagonisten Josef K. angenähert: Denn wie dieser war er jetzt Untermieter , mit einer Wirtin, die morgens das Frühstück brachte, und mit Nachbarn, die nicht jenseits des Treppenflurs, sondern hinter der nächsten Tapete hausten. Und obwohl er diese Beengtheit, diese unfreiwillige, den Junggesellen plagende Nähe literarisch längst vorweggenommen hatte, schien ihm, als müsse er daran verzweifeln von der ersten Stunde an.
»Und dabei geschah nichts besonderes, alle sind rücksichtsvoll, meine Wirtin verflüchtigt sich zum Schatten mir zuliebe, der junge Mensch, der neben mir wohnt, kommt abend müde aus dem Geschäft macht paar Schritte und liegt {590} schon im Bett. Und trotzdem, die Wohnung ist eben klein, man hört die Türen gehn; die Wirtin schweigt den ganzen Tag, paar Worte muß sie mit dem andern Mieter vor dem Schlafengehn noch flüstern; sie hört man kaum, den Mieter doch ein wenig: die Wände sind eben entsetzlich dünn; die Schlaguhr in meinem Zimmer habe ich zum Leidwesen der Wirtin eingestellt, es war mein erster Weg, als ich eintrat, aber die Schlaguhr im Nebenzimmer schlägt dafür desto lauter, die Minuten suche ich zu überhören, aber die halben Stunden sind überlaut angezeigt, wenn auch melodisch; ich kann nicht den Tyrannen spielen und die Einstellung auch dieser Uhr verlangen. Es würde auch nichts helfen, ein wenig
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