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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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künftigen Unglücks, das er klugerweise vermeidet, indem er Leben überhaupt meidet, sei es menschlich oder hündisch. Der Stoß, der das Leben Josef K.s aus dem Gleis wirft, erscheint hier gleichsam verteilt auf eine unablässige Folge von Irritationen, und während Josef K. an der wahrhaft metaphysischen Aufgabe, die ihn heimsucht, noch ein gewisses Format gewinnt, reibt sich Blumfeld wund am Geröll des Alltäglichen.
    Blumfeld will vor allem Ruhe, Grabesruhe, und darum erlebt er die Realität als Sperrfeuer von Störungen. Als er eines Abends nach Hause kommt, findet er in seinem Zimmer zwei springende Tischtennisbälle vor, die sich wunderbarerweise von selbst bewegen und die ihm folgen, als stünden sie in seinem Dienst. Er denkt sich einen Plan aus, um die Bälle ohne Aufsehen loszuwerden, wird dabei jedoch von zwei kleinen Mädchen gestört. Dann geht er in sein Büro, wo zwei junge Praktikanten, die angeblich zu seiner Hilfe abgestellt sind, ihm durch ihr kindisches Treiben den Arbeitstag zur Pein machen.
    Mit hörbarem, selbstquälerischem Vergnügen erprobt hier Kafka ein Muster, das ebenso einfach wie unendlich variabel ist: die in Gestalt ununterscheidbarer Doppelwesen auftretende Störquelle, die Störung in Stereo , die man stets neben, hinter, über oder unter sich hat, deren Ursache man aber niemals ins Auge blickt: jene Art von Störung, die man selten im bürgerlichen Heim, doch beinahe zwangsläufig in Mietskasernen und Hotelzimmern erfährt. Kafka hat die Möglichkeiten der Variation nur angedeutet, denn die Blumfeld-Geschichte blieb unvollendet liegen: dreißig Manuskriptseiten immerhin, der längste zusammenhängende Text, und der komischste, den Kafka für Jahre zustande bringen wird. Jenes Störmuster aber hat er im SCHLOSS-Roman wieder aufgenommen und vollendet. Denn die beiden ›Gehilfen‹ des Landvermessers, die zum Fenster hereinkommen, wenn man sie zur Tür hinauswirft, sind anonyme Figuren des Slapstick, lächerlich als Gegner, und doch zugleich Plagen, die irgendeine Transzendenz über die Welt verhängt hat, um sie zur Hölle zu machen.
    Aber die Wunde schmerzt nicht, weil sie berührt wird, sie schmerzt, weil sie eine Wunde ist. Auch Kafka hätte nicht zu sagen gewusst, was zuerst da war: die überreizten Nerven, der Kopfschmerz oder der Lärm. Doch er wusste, dies alles sind Echos, die aus dem eigenen Inneren kommen. Nicht zufällig werden Blumfelds Praktikanten wie {593} auch die Gehilfen im SCHLOSS von denjenigen eigens angefordert, zu deren Qual sie bestimmt sind. Auch das Geräusch der Welt ist ein Echo, das sich zum unaufhörlichen Lärm erst entfaltet im Schallraum eines einsamen und leeren Lebens. Ohropax hilft dagegen gewiss nicht. Vielleicht aber ein Hund. Ja, ein Hund hat auch Vorteile, Blumfeld sollte sich trotz allem einen Hund anschaffen. Und hätte Kafka die Geschichte bewältigt, und hätte er, wie stets, nach einem möglichst logischen, formal strengen, dabei komischen und grausamen Ende gesucht, so lag der passende Einfall nahe genug: Blumfeld bekommt seinen Hund, gratis und frei Haus. Aber er bekommt zwei . [559]  

{594} Ins Niemandsland
Das hätte ich nicht denken können. – Das hat man mir erzählen müssen.
Hans Henny Jahnn, FLUSS OHNE UFER
    »Siebzehn Stunden saß Leutnant Trotta im Zug. In der achtzehnten tauchte die letzte östliche Bahnstation der Monarchie auf. Hier stieg er aus.« Ein Märchenreich jenseits der Geschichte ist es, das Joseph Roth im RADETZKYMARSCH schildert, Jahre nach dem endgültigen Zerfall des Habsburgerimperiums. Ein Reich, in dem die Uniformknöpfe funkeln, die weißen Backenbärte sorgfältig gebürstet sind und der Kaiser die Schulden seiner Diener bezahlt. Doch Roths Bahnauskunft ist korrekt, er kennt die Strecke, denn an jener Endstation liegt sein Geburtsort.
    Für Kafka war es zu spät, einen Ausflug an die Grenze zu machen, denn diese Grenze gab es nicht mehr. Im Sommer 1914 wäre die letzte Gelegenheit gewesen, die alleröstlichsten k. u. k. Wachhäuschen zu besichtigen, von denen viele inmitten von Sümpfen standen, umgeben von Schlamm, Staub und vom unablässigen Konzert tausender Frösche, und an denen ein gemütlicher Verkehr von Schnapsfässern und Deserteuren die einzige Abwechslung bot. Aber wer wollte denn vor dem Großen Krieg nach Galizien? »Ich habe Lemberg und Czernowitz nie gesehen«, schrieb Max Brod im Herbst 1914, »und ich werde vielleicht hundert italienische Städte besuchen, ehe es mir einfallen

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