Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
wird, nach Galizien zu reisen.« So sprach ein Prager Kulturzionist, einer der wenigen Städter, die Gründe gehabt hätten für eine Reise nach Osten, gegen den Strom. »Aber als man mir Lemberg und Czernowitz nehmen wollte«, fuhr er fort, »da fühlte ich an meinem Körper, daß sie Rechtens zu mir gehören und daß ich sie auf keinen Fall vermissen kann.« Da war sie wieder, die Stimme der jüdischen Patrioten. [560]
Doch diese Stimme war nun sehr viel leiser geworden. An die kaisertreuen Aufmärsche vor dem Altstädter Rathaus, an die blumengeschmückten Haubitzen erinnerte man sich wie an Bilder aus unvordenklichen Zeiten, und es war schwer sich klarzumachen, dass dies alles noch nicht einmal ein Jahr zurücklag. Prag war grau geworden, die Plätze, die Parks, die Bahnhöfe, der gesamte öffentliche Raum begann unübersehbar zu verwahrlosen, und die Menschen in den Warteschlangen diskutierten nicht mehr über Siege und Niederlagen, sondern schimpften über die Preise, die dilettantische Planwirtschaft der Behörden und das unverschämte Prassen der wenigen Kriegsgewinnler, die der hilflosen Erregung ein dankbares Ziel boten. Es war nicht länger zu leugnen: Der Alltag in den Städten des Habsburgerreichs geriet unter das Diktat einer Mangelwirtschaft, und diese wiederum gehorchte nicht den verklausulierten Anordnungen der Amtsblätter, sondern den einfachen Gesetzen des Schwarzmarkts. Es half nichts, Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel auf 100 Prozent zu begrenzen, solange die umlaufende Geldmenge noch größer war als der Hunger. Nach nur einem Kriegsjahr hatten sich die Lebensmittelpreise in Prag verdrei- und vervierfacht, und bereits seit Einbruch des Winters kauten alle das aus gestrecktem Getreide hergestellte ›Kriegsbrot‹.
Im April 1915 kamen die unvermeidlichen Rationierungen, zuerst für Brot und Mehl. Eine Maßnahme, die, wie es in den Meldungen hieß, vor allem der Gerechtigkeit der Verteilung dienen sollte. Das klang gut, sorgte aber für Missverständnisse. Denn die ›Brotkarten‹ (ein neuer Begriff, den man im siegesgewohnten Berlin schon seit Anfang Februar kannte) waren keineswegs, wie man anfangs glaubte, das Äquivalent von Brot. Zwar gaben sie jedem Bürger das Recht zum täglichen Erwerb einer Grundration (140 Gramm, entsprechend etwa 350 Kalorien), doch vor leeren Regalen halfen diese Karten gar nichts. Und in Prag, wo es vor dem Krieg etwa 300 Bäckereien gegeben hatte, standen die Regale in 280 Bäckereien leer, denn sie waren geschlossen.
Welche Auswirkungen dieser Verfall in Kafkas unmittelbarer Umgebung hatte, lässt sich seinen Briefen und Aufzeichnungen nicht entnehmen. Er war anspruchslos, gleichgültig gegenüber Geld und darum gewissermaßen taub gegen die frühesten Signale kommenden Elends. Dennoch gibt es Indizien dafür, dass auch die Kafkas zu {596} kämpfen hatten. Wäre es denn zu besseren Zeiten denkbar gewesen, dass die Tochter den eigenen Eltern Verpflegungskosten erstattet? Tatsächlich lebten Elli und ihre Kinder Felix und Gerti keineswegs als Dauergäste in Franzens Zimmer, sondern als Untermieter, was sich zu aller Leidwesen schnell herumsprach. Dass Kafka sich im Januar 1915 seines letzten Antrags auf Gehaltserhöhung entsann, dem ja nur teilweise entsprochen worden war, ging gewiss auf bohrende Fragen der Familie zurück, die nun häufiger von Geld sprach denn je. Er wiederholte sein Gesuch, verlangte jetzt ein noch höheres Gehalt – schließlich waren weitere zwei Dienstjahre verstrichen –, und staunte darüber, dass er diesmal Erfolg hatte: Bewilligt wurden zusätzliche 1200 Kronen jährlich, ein Betrag, den er, solange es nicht noch schlimmer kam und die Ehe mit Felice ein unbestimmter Traum blieb, für sich allein gar nicht sinnvoll ausgeben konnte. So fiel ihm nichts Besseres ein, als es den Eltern gleichzutun und bei nächster Gelegenheit Kriegsanleihen zu zeichnen. 5½ % Zinsen wurden versprochen, steuerfrei, auf fünfzehn Jahre. Keine Spende, sondern ein Geschäft. Ob es ein gutes Geschäft war, musste sich freilich woanders entscheiden, in Galizien, viele Bahnstunden östlich von Prag.
Die Grenze gab es nicht mehr. Bis zu 250 Kilometer breit war der Streifen Land, der einst zu Habsburg gehörte und jetzt der russischen Armee als ›Bereitstellungsraum‹ diente. Man hatte aufteilen wollen und wurde nun selbst geteilt. Nicht nur Lemberg war verloren, auch die für uneinnehmbar geltende Prestigefestung Przemyśl hatte man sich selbst
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