Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
überlassen müssen. 130 000 Soldaten und 30 000 Zivilisten waren dort eingeschlossen; sie froren, schlachteten ihre Pferde und Hunde, verarbeiteten Birkenrinde zu Ersatzmehl. Die russische Armeeführung, durch Spione über die Vorgänge in Przemyśl genauestens im Bilde, brauchte nur abzuwarten; Hunger und Seuchen erledigten den Rest. Es war schwer, den Abonnenten der liberalen Blätter diese Demütigung zu erklären.
Doch die politische Ehre der Zeitungsleser war im Frühjahr 1915 nicht mehr ganz so empfindlich wie bei Kriegsbeginn. Sie hatten Dinge hören, sehen und lesen müssen, die sie sich nicht hatten träumen lassen. Die österreichische Armee, die doch ursprünglich (längst dachte daran niemand mehr) zu einer Strafexpedition aufgebrochen war, hatte sich von den serbischen ›Mausefallenhändlern‹ förmlich außer {597} Landes prügeln lassen. Hohe Offiziere hatten ihre Mannschaften in den Erschöpfungstod getrieben und wurden dafür nicht vor Kriegsgerichte gestellt, sondern in ehrenvolle Pension entlassen. Und der große Conrad von Hötzendorf ließ sich nur noch hören, um die Schuld anderen zuzuschieben. Im Juni spätestens, so hieß es, würden die Russen vor Budapest stehen.
Die Karpaten bildeten den natürlichen Wall, den es jetzt zu verteidigen galt. Dreimal im Verlauf eines Vierteljahres, und mitten im tiefsten Winter, traten dort österreichisch-ungarische und deutsche Truppen gemeinsam an, um den Gegner zurückzudrängen. Angriffe im Schneesturm, bei minus 25 Grad Celsius, das hatte es in der Kriegsgeschichte noch niemals gegeben. Menschenmassen wurden herangeführt und verbraucht, nicht anders als Munition. Ihre Kleidung verwandelte sich in Eispanzer, die von den starren Körpern wochenlang nicht mehr abzulösen waren. Wer sich dem Schlaf überließ, erfror unweigerlich. Mitte März musste die k. u. k. 2. Armee einräumen, dass sie von 95 000 Mann rund 40 000 verloren hatte, davon aber nur 6000 durch Einwirkung des Gegners, die anderen durch Krankheiten und Erfrierungen.
Solche Meldungen gelangten natürlich nicht in die Nachrichtenbüros, und noch Jahre später erinnerte sich Kafka daran, wie »friedlich« sich der Weltkrieg im Licht der Neuen Freien Presse ausgenommen hatte. [561] Wer ein realistisches Bild des Krieges wollte, war freilich auf Zeitungen schon längst nicht mehr angewiesen. Jeder hatte irgendwelche ›eingerückten‹ Verwandten oder Bekannten, die Unglaubliches erlebt oder wiederum von anderen erfahren hatten, und auch die Kafkas, die ja eher zur Verdrängung als zur Konfrontation neigten, blieben von physischen Details nicht verschont. Als Josef Pollak, Vallis Ehemann, mit einer Handverletzung für einige Wochen nach Prag zurückkehrte, drängte sich die Rohheit des Krieges mit Macht zwischen das bürgerliche Interieur.
»Pepa zurück. Schreiend, aufgeregt, außer Rand und Band. Geschichte vom Maulwurf, der im Schützengraben unter ihm bohrte und den er für ein gött- liches Zeichen ansah, von dort wegzurücken. Kaum war er fort, traf ein Schuss einen Soldaten, der ihm nachgekrochen war und sich jetzt über dem Maulwurf befand. – Sein Hauptmann. Man sah deutlich, wie er gefangen genommen wurde. Am nächsten Tag fand man ihn aber nackt von Bajonetten durchbohrt im Wald. Wahrscheinlich hatte er Geld bei sich, man hatte ihn {598} durchsuchen und berauben wollen, er aber hatte ›wie die Offiziere sind‹ sich nicht freiwillig anrühren lassen. […] Geschlafen einmal im Schloss des Fürsten Sapieha, einmal knapp vor österr. feuernden Batterien, wo er in der Reserve lag, einmal in einer Bauernstube, wo in den zwei Betten rechts und links an den Wänden je zwei Frauen, hinter dem Ofen ein Mädchen, und auf dem Fussboden acht Soldaten schliefen. – Strafe für Soldaten. Festgebunden an einem Baum stehn bis zum Blauwerden.« [562]
Nie zuvor hatte ihn das Wände durchdringende Gepolter des Schwagers hinlänglich interessiert, um es zu zitieren; dies jedoch war eine Form volkstümlicher Überlieferung, die Kafka schätzte, weil sie sinnlich und zeichenhaft war (und weil sie die vergoldeten Erinnerungen des Vaters an seine eigene Militärzeit endlich zum Schweigen brachte). Daneben allerdings verfügte er, wie schon während der Balkankriege, noch über andere, verlässlichere Quellen: Augen- und Tatzeugen, die selbst im tiefsten Grauen die reflektierende Distanz der Beobachtung nicht völlig preisgaben. Vor allem Egon Erwin Kisch und Hugo Bergmann, die beide
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