Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Brief. »Der Mensch kann Ungeheueres.« Und auch am Ende des Jahres kann sich Kafka von diesem Anblick noch immer nicht losreißen: »Werfel hat mir neue Gedichte vorgelesen, die wieder zweifellos aus einer ungeheueren Natur herkommen. […] Und der Junge ist schön geworden und liest mit einer Wildheit (gegen deren Einförmigkeit ich allerdings Einwände habe)! Er kann alles, was er je geschrieben hat, auswendig und scheint sich beim Vorlesen zerfetzen zu wollen, so setzt das Feuer diesen schweren Körper, diese große Brust die runden Wangen in Brand.« Kafka richtete zeitweilig einen beinahe verliebten Blick auf Werfel, und selbst die ersten Zweifel an dessen allzu ›einförmigen‹ Ausbrüchen änderten nichts daran, dass er ihn als menschliche Erscheinung idealisierte: »Geduckt, selbst im Holzsessel halb liegend, das im Profil schöne Gesicht an sich gedrückt, vor Fülle (nicht eigentlicher Dicke) fast schnaufend, {45} ganz und gar unabhängig von der Umgebung, unartig und fehlerlos.« Selbst noch ein Jahrzehnt später, als Kafka von Werfels literarischer Entwicklung längst ernüchtert war, verteidigte er dessen auffallende äußere Erscheinung. Nein, Werfel sei keineswegs dick, schrieb er an Milena Jesenská, und wenn schon: Vertrauenswürdig seien ohnehin nur die Dicken. »W. wird mir schöner und liebenswerter von Jahr zu Jahr … « [28]
Und doch ein Junggeselle und, wie Kafka sehr bald begriff, ein ebenso wurzelloser ›Westjude‹ wie er selbst. Hatte er niemals daran gedacht? Konnte man sich einen alternden, treusorgenden, verantwortungsbewussten Familienvater Werfel überhaupt vorstellen? Oder einen Werfel, der mühselig die Treppen zu seiner einsamen Dachkammer erklimmt, in einer Hand das spärliche Nachtmahl? ›Werfel, ein älterer Junggeselle … ‹ – nein, solchen Drohungen schien er von Kindesbeinen entronnen, hier leuchtete ein nicht erkämpftes, vielmehr verliehenes Glück auf, eine Art Erwähltsein, das Werfels Hässlichkeit gleichsam von innen durchstrahlte. Ein Geschenk, ein Gewinn. Werfel war ein Hauptgewinner. Und darum war es nur natürlich, dass er reiche Eltern und schöne Schwestern hatte, dass sein Kinderzimmer auf den Stadtpark blickte, dass die Damen im ›Gogo‹ ihn liebten, dass er nicht zu studieren und keine Bürostunden abzusitzen brauchte, dass er lyrische Bestseller schrieb, dass er im Jahr 1912 zu einem jungen, großzügigen und literarisch gebildeten Verleger wechselte – Kurt Wolff in Leipzig – und dass er schließlich dort, wo seine Werke erschienen, auch Lektor wurde, im einzigen bedeutsamen deutschsprachigen Verlag, der mit einem solchen Lektor hätte arbeiten können. The winner takes all .
»Das geht niemals über Bodenbach hinaus«, sagte Werfel, als Brod ihm das erste Mal kleine Prosastücke Kafkas vorlas. Bodenbach, das war die böhmische Grenzstation, hinter der das Deutsche Reich begann. Dort, so glaubte Werfel, würde dieses Prager Geheimdeutsch kein Mensch verstehen. Brod war gekränkt und packte die Manuskripte weg. Später versammelte Kafka seine frühen Texte in einem schmalen Band, dessen Produktion Werfel überwachte, jenseits der Grenze. Kafka schenkte ihm ein Exemplar. Und auf dem Titelblatt notierte er: »Der große Franz grüßt den kleinen Franz.«
{83} Jungborn, Endstation
Was nicht seltsam ist, ist unsichtbar.
Paul Valéry, CAHIERS, 1912
»Ich bestätige, dass Herr JUDr.Franz Kafka, Concipist der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt für Böhmen in Prag, wegen Verdauungsstörungen, minderem Körpergewichte und einer Reihe von nervösen Beschwerden es dringend nötig hat, zumindest eine vierwöchentliche rationelle Kur in einer gutgeleiteten Anstalt durchzumachen und zu diesem Zwecke einen einmonatlichen Urlaub zum Mindest nötig hat.
MUDR. Siegmund Kohn
prakt. Arzt« [71]
Drei Wochen standen Kafka ohnehin zu, das ärztliche Votum verschaffte eine zusätzliche Woche. Allerdings, er war mit der zugebilligten Freiheit ein wenig anders umgegangen, als die Medizin es empfahl. Er hatte einen Verleger gefunden. Er hatte Museen besichtigt, Schwimmbäder und verrückte Schriftsteller besucht und tagelang ein Schulmädchen verfolgt. Es war der 8.Juli 1912, da Kafka endlich seinen Koffer im Verwaltungsgebäude einer »gutgeleiteten Anstalt« niedersetzte und sich ins Gästebuch eintrug. ›Jungborn. Rudolf Just’s Kuranstalt. Naturheilanstalt und Erholungsheim. Heimstätte für natürliche Heil- und Lebensweise‹. Ein Außenposten der
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