Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
einmal »den Kopf zurechtzusetzen«. Ein »rührender Brief«, wie Brod im Tagebuch vermerkt.
Die Welt der Prager Juden war übersichtlich, das Netz der Beobachtung eng geknüpft, die Stimme der Eltern niemals fern. Und doch leuchtete auf dieser engen Bühne eine Utopie auf, die so etwas wie Erlösung versprach, ein Leben jenseits von Junggesellentum und Ehe, ein tänzelndes, schwebendes Leben allein für die Kunst. Diese Utopie hieß Werfel . Seit langem schon bestaunte Kafka diesen Knaben, dem alles, wonach er selbst vergeblich die Arme reckte, gleichsam ohne Bewusstsein zuzufallen schien. Zwar gab Werfel kein Vorbild ab, dem Kafka hätte folgen, dem er sich hätte anvertrauen wollen; der Altersunterschied von sieben Jahren bedeutete ein Gefälle von Erfahrung und Verantwortung, das heilende Nähe nicht aufkommen ließ. Doch allein Werfels Vitalität, die erstaunliche Tatsache, dass man derart auftrumpfen konnte, ohne dass die Welt zurückschlug, bedeutete einen Trost.
Werfel, dem Gymnasium kaum entwachsen, war ein Kind im Garten Eden: dicklich, mit hervortretenden Augäpfeln, laut und vorlaut, naiv bis zur Lächerlichkeit, gefühlsselig, von notorischem Optimismus, leicht erregbar, ein Nutznießer mütterlicher overprotection und zugleich deren Opfer, materiell gut versorgt und mit Aussicht auf ein reiches Erbe. Werfel strahlte eine gleichsam physische Begeisterung aus, die sich auf den geringfügigsten Gegenstand ebenso zu richten vermochte wie auf die ganze Menschheit und die mitriss durch schiere Intensität. Kein Kellner schritt ein, wenn Werfel im Café Arco plötzlich aufsprang und seine neuesten Gedichte deklamierte, mit einem Pathos, das sämtliche Gespräche im Raum verstummen ließ; und selbst das Personal in Prags legendärem Edelbordell, dem ›Gogo‹ in der Gemsengasse, klatschte begeistert, wenn der erstaunliche Knabe mit schöner Tenorstimme Arien vortrug, die er alle auswendig kannte.
Werfel war eine Entdeckung Max Brods, der sich bei seinem Berliner Verleger Axel Juncker für den Debütanten nachhaltig einsetzte. Brod liebte die Rolle des öffentlichen Mentors, war jedoch unfähig, die Selbständigkeit und damit auch Fremdheit literarischer Leistungen anzuerkennen, geschweige denn gelassen zuzusehen, wie seine Protegés allmählich ihren Weg fanden. Werfel war selig, als er im April 1911, ein halbes Jahr vor seinem ersten Buch DER WELTFREUND, eigene Gedichte in der von Karl Kraus herausgegebenen Fackel entdeckte: Das war der Ritterschlag, den Brod ihm nicht bieten konnte. Und eine {42} Bestätigung eigentlich auch für Brod, dessen literarisches Urteil von unabhängiger Instanz bestätigt wurde. Doch zum Mitfeiern war Brod nicht zumute. Denn ausgerechnet jetzt hatte er sich auf eine publizistische Kontroverse mit Kraus eingelassen, der die ungleich wirkungsvolleren Waffen führte und Brod mit einer Reihe unrühmlicher Zitate aus dessen eigenen Werken blamierte. Brod war außer sich, doch niemand in Prag erhob die Stimme für ihn, und auch Werfel sah natürlich keinen Anlass, sich in den Streit seiner Förderer einzumischen.
Sowohl in Brods hilflosen Reaktionen als auch – noch Jahrzehnte später – in seiner Autobiographie STREITBARES LEBEN wird die schockhafte Desillusionierung spürbar, mit der er sich aus dem imaginierten Zentrum der Prager Literatur hinauskatapultiert sah. »Wie schön ist es«, hatte er im Mai 1911 im Tagebuch notiert, »seinen Einfluß in einem ebenso begabten feurigen Geist fortblühn zu sehen, zu ganz neuen, und doch mir innerlich verwandten Ausdrücken kommen!« Da glaubte er noch, sein TAGEBUCH IN VERSEN (1910) sei für Werfels Hymnik von entscheidender Bedeutung gewesen. Als er wenige Tage später die Fackel aufschlug, fand er diese Genealogie durchtrennt: »Geist auf Brod geschmiert ist Schmalz«, wetterte Kraus und druckte ausgerechnet auf der Seite gegenüber ein weiteres Gedicht Werfels ab. [23] Dafür konnte Werfel nichts, doch es kümmerte ihn auch nicht. Während Brod seine Heimatstadt am liebsten zur Sperrzone für den Wiener Satiriker erklärt hätte, lud Werfel den ›Fackelkraus‹, als sei nichts geschehen, zu Lesungen nach Prag und führte ihn gar bei seiner Familie ein. Das war nicht nur Undankbarkeit, das war Verrat. Und daran hielt Brod fest bis an sein Lebensende; er überzeichnete Werfels Dankesschuld, ja, er schreckte nicht einmal davor zurück, Kafkas Tagebücher zu manipulieren, um den Verdacht des schieren Neids zu entkräften.
Weitere Kostenlose Bücher