Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
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Dieser Verdacht lag auch den Zeitgenossen schon nahe genug, und im Gegensatz zu Brod zögerte Kafka nicht, sich der Selbsterkenntnis zu beugen.
»Ich hasse W., nicht weil ich ihn beneide, aber ich beneide ihn auch. Er ist gesund, jung und reich, ich in allem anders. Außerdem hat er früh und leicht mit musikalischem Sinn sehr Gutes geschrieben, das glücklichste Leben hat er hinter sich und vor sich, ich arbeite mit Gewichten, die ich nicht loswerden kann und von Musik bin ich ganz abgetrennt.« [25]
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Vor allem aber genoss Werfel eine Geborgenheit, die in krassem Gegensatz stand zu der wachsenden Entfremdung von der eigenen Familie, die Kafka durchlitt und die spätestens seit der Gründung der Asbestfabrik unumkehrbar schien. Werfels Mutter entschuldigte die schlechten schulischen Leistungen ihres Sohnes mit dem Argument, die wunderschönen Gedichte, die er mache, ließen ihm zu wenig Zeit zum Lernen – war etwas Derartiges aus dem Munde der Kafkas auch nur denkbar? Gewiss, auch der Kommerzialrat Rudolf Werfel verharrte lange Zeit in dem Glauben, dass jede Pubertät ein Ende finden und Franz eines Tages die familieneigene Handschuhfabrik übernehmen werde, was denn sonst? Er schickte ihn in ein Handelskontor nach Hamburg, wo er die notwendigen Grundkenntnisse erwerben sollte, und nach dem baldigen Scheitern dieser Exkursion bestand er darauf, dass Franz seinen Militärdienst ableistete. Doch obwohl keine dieser späten erzieherischen Maßnahmen fruchtete, beobachteten die Eltern schließlich mit Stolz seine literarischen Erfolge und kümmerten sich sogar um die Wahrnehmung seiner Verlagsinteressen.
Kafkas »Hass« wich sehr bald der unmittelbaren Wirkung von Werfels Sprache. »Einen Augenblick fürchtete ich die Begeisterung werde mich ohne Aufenthalt bis in den Unsinn mitfortreissen«, schrieb er im Dezember 1911, wenige Tage nach Erscheinen des WELTFREUNDS – einer der seltenen Fälle, da er mit dem literarischen Urteil der gesamten Prager Szene einig ging. [26] Werfels erster Gedichtband war eine Sensation, 4000 Exemplare wurden schon im ersten Monat abgesetzt, und gleichsam wie im Traum öffneten sich dem Jüngling die Türen in Wien, Leipzig und Berlin – während er fortfuhr, zu Hause und am liebsten gemeinsam mit Gleichaltrigen die Ekstasen der spontanen Schöpfung zu zelebrieren. Sein engster Freund Willy Haas, der die Herderblätter herausgab; der Dramatiker Paul Kornfeld, damals noch spiritistisches Medium; Ernst Deutsch, der geborene Schauspieler: allesamt Klassenkameraden, die gespannt zuschauten, wenn Werfel nach einem Bleistiftstummel und einem noch unbeschriebenen Zettel kramte.
Mein einziger Wunsch ist, Dir, oh Mensch, verwandt zu sein!
Bist Du Neger, Akrobat, oder ruhst Du noch in tiefer Mutterhut,
Klingt Dein Mädchenlied über den Hof, lenkst Du Dein Floß im Abendschein,
Bist Du Soldat oder Aviatiker voll Ausdauer und Mut.
Trugst Du als Kind auch ein Gewehr in grüner Armschlinge?
Wenn es losging, entflog ein angebundener Stöpsel dem Lauf.
Mein Mensch, wenn ich Erinnerung singe,
Sei nicht hart und löse Dich mit mir in Tränen auf! [27]
Die Vorstellung, dass der blonde, schweißglänzende Werfel, in seiner Uniform als ›Einjährig-Freiwilliger‹, an der Seite den Säbel, im Café Arco solche Zeilen zum Besten gab, scheint mit seinem frühen Dichterruhm nur schwer zu vereinbaren: Es ist Kitsch, und es ist komisch. Tatsächlich wurde solche ›Oh Mensch‹-Lyrik auch zahlreichen frühen Bewunderern zum Gegenstand des Gespötts – nach dem Krieg allerdings, und vielfach ohne Erinnerung daran, dass vor der großen Katastrophe diese einfache, bewegliche und scheinbar jeden künstlichen Aufwand scheuende Sprache die Hörer förmlich emporriss über das alltägliche Nationalitäten-, Parteien- und Religionsgezänk. Hier schienen sich neue Horizonte der Versöhnung zu öffnen, eine wunderbare Aufwertung der kindlichen Natur, eine Macht des Gefühls jenseits von Psychologie, schiere Intensität des Lebens, das keiner Argumente bedurfte.
Freilich bedurfte es der Exaltation, die Werfel immer und überall zu Gebote stand, um diesen Rausch stetig zu erneuern, und mehrfach benutzte Kafka den Begriff des ›Ungeheuren‹, um Werfels beispiellose Präsenz zu beschreiben. »Ein Ungeheuer!« notierte er im August 1912 im Tagebuch. »Aber ich sah ihm in die Augen und hielt seinen Blick den ganzen Abend.« »Werfel ist tatsächlich ein Wunder«, heißt es bald darauf in einem
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