Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Zivilisation, eine Oase am Nordhang des Harzes, wo Dr.Kafka bereits erwartet wurde.
Der außerordentlich geschickt erfundene Begriff ›Jungborn‹ war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein Markenzeichen, das in der öffentlichen Sprache beinahe gleichbedeutend war mit Lebensreform und Naturheilkunde. Adolf Just, ein Buchhändler und Autodidakt, der das Sanatorium im Jahr 1896 begründet hatte, beklagte sich immer {84} wieder über die Dreistigkeit, mit der alle möglichen Produkte – darunter Schokolade, Fleischkonserven, Zigarren und Hundekuchen – mit dem ungeschützten Etikett ›Jungborn‹ versehen wurden, um an dessen positiven Konnotationen mitzuverdienen (vergleichbar dem heutigen ›Öko‹- und ›Bio‹-Geschäft). Indessen, an dieser Inflationierung und Kommerzialisierung war Just selbst nicht ganz unbeteiligt. Denn aus dem Kerngedanken, dass ein möglichst ›naturgemäßes‹ Leben die beste Heilmethode sei, dass es also darauf ankomme, die gesund erhaltende Wirkung von Licht, Luft, Wasser, Erde und Pflanzen auf den menschlichen Leib zuzulassen – aus dieser Idee hatte Just längst eine Weltanschauung entwickelt, die sich immer weiterer Themen und Gegenstände des täglichen Lebens bemächtigte. Wenn es so etwas wie ›naturgemäße‹ Unterwäsche gab – und eben dies behauptete Just –, dann war es legitim, sie selbst herzustellen und als ›Jungbornwäsche‹ zu vertreiben. Dasselbe galt für naturgemäße Bettdecken, Badewannen, Schuhe, erst recht für eingemachte Früchte, die in ›reiner Harzluft‹ gereift waren, für Weizenschrotbrot, Fruchtkaffee und schließlich auch für ›Adolf Just’s Nussbutter‹ – allesamt Produkte, die man aus dem Katalog des ›Jungborn-Versandhauses Rudolf Just‹ bestellen konnte, das von Justs jüngerem Bruder geleitet wurde. Die Familie Just lieferte das komplette Zubehör für ein Leben mit der Natur.
Auch Kafka war das Label gewiss seit langem vertraut, und würde eines Tages der Nachweis erbracht, dass er zu den Stammkunden jenes Versandhauses gehörte, so wäre dies alles andere als überraschend. Im September 1911 hatte er – auf der Rückreise von Paris – einige Tage im Naturheilsanatorium Erlenbach bei Zürich verbracht, wo ähnliche Prinzipien befolgt wurden. Er wusste also, was ihn erwartete, als er in Jungborn gleichsam im Zentrum der Bewegung anlangte, und er wusste, dass die rigorosesten Verfechter sich hier versammelten.
Betrachtet man die ›Vogelschau‹ des gesamten Geländes, die Just in seinem Bestseller KEHRT ZUR NATUR ZURÜCK! abdruckte, so verblüffen zunächst die Dimensionen: Der ›Jungborn‹ war keinesfalls eine Kurklinik mit Garten, sondern erstreckte sich über mehr als 80 000 Quadratmeter, die Fläche eines mittelgroßen Feriendorfs. Darauf weitläufig verstreut waren zahlreiche ›Lichtlufthäuschen‹ aus Holz, die sich nach allen Seiten durch Luken und Fenster öffnen ließen. Fast alle Gäste wohnten in derartigen Hütten mitten auf der Wiese, {85} und in lauen Sommernächten nahm man die Decke einfach mit nach draußen, schlief im Gras oder lauschte auf Vögel, Kaninchen und Ratten.
Die wichtigste Maßregel der Jungborn-Kur bestand darin, den eigenen Körper so viele Stunden wie möglich der Luft und dem Licht auszusetzen, möglichst bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit. Dies bedeutete, dass die Gäste sich überwiegend nackt im Gelände bewegten, und die Nacktheit wiederum erzwang eine funktionell ausgeklügelte Untergliederung des Areals: Es gab einen Herren- und einen Damen-Luftpark, außerdem Familien-Luftparks sowie Einzelparks für Gäste, »die sich zunächst genieren«. Familien konnten auch bekleidet im ›Friedrichspark‹ wohnen und sich tagsüber auf Damenund Herren-Luftpark verteilen. Alle diese Sektoren waren durch bis zu drei Meter hohe Holzwände voneinander getrennt und auch von außen nicht einsehbar. Nur in den Gemeinschaftsräumen erschien man selbstverständlich bekleidet: in den Speisesälen, im Schreibzimmer, im Vortragsraum und im angeschlossenen Restaurant ›Eckerkrug‹, dem Treffpunkt der Fleischesser.
So einleuchtend Kafka das naturheilerische Prinzip der Nacktheit war: Zunächst einmal bedeutete Jungborn eine Mutprobe. Obwohl vor seiner Hütte beständig unbekleidete Männer gingen, saßen oder auf der Erde lagen, konnte er sich tagelang nicht dazu überwinden, ohne ›Schwimmhosen‹ ins Freie zu treten. Doch das verstieß gegen die Etikette, und da in Jungborn auch für
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