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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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einsperren und ungeschehen machen könnte, so dass ich bloss so unglücklich wäre, wie früher.« [90]  
    Kafka war gänzlich aus dem Gleichgewicht. Er verbrachte wieder viel Zeit im Bett, laborierte an Abszessen, blätterte in den eigenen Tagebüchern, was ihm nicht gut bekam, und grübelte weiter über das Berliner Fräulein. Die Idee mit den Blumen war noch nicht ad acta gelegt. Denn Felice Bauer würde auf der Rückreise von Budapest Station in Breslau machen, und Kafka wusste den ungefähren Termin. Konnte man nicht den Gefährten aus dem ›Jungborn‹, den in Breslau lebenden Dr.Schiller, darum bitten, Felice Blumen zu überreichen? Dass Kafka diesmal und vielleicht überhaupt zum ersten Mal in seinem Leben keine Furcht vor unkonventionellen Maßnahmen hatte, ja sogar bereit war, alles auf eine Karte zu setzen, sollte bald deutlich werden.
    Noch behielt seine habituelle Vorsicht die Oberhand. Ein falscher Schritt konnte alles verderben. Doch es war, als neigte sich ausgerechnet {105} jetzt – und ganz ohne sein Zutun – die schmale Fläche, auf der er seine losgelöste Existenz von Tag zu Tag verteidigte. Denn in dichter zeitlicher Folge sorgten nun äußere Ereignisse dafür, dass er die seit Felice Bauers Auftauchen erneut um Ehe, Familie und Vaterproblem wild kreisenden Gedanken nicht mehr beschwichtigen konnte.
    Es begann damit, dass Ende August der »Madrider Onkel« Alfred Löwy für einige Tage zu Besuch kam – eine für Kafka mehr denn je paradigmatische Figur. Denn Löwy hatte zwar Karriere gemacht, kannte die Welt und hatte sogar schon den Händedruck des amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt empfangen, was ihm bei den Prager Kafkas, auch bei Franz, beträchtlichen Respekt eintrug; andererseits aber war Alfred Löwy Junggeselle geblieben und hatte damit auf die Wärme und die sinnstiftende Funktion der Familie verzichtet. Für Kafka warf diese Biographie die grundlegende Frage auf, ob irgendeine Form von Erfolg oder Selbstbestätigung – in diesem Falle beruflicher Art – das gefürchtete Unglück eines lebenslänglichen Junggesellendaseins ausgleichen konnte. Anders gefragt: War ein zufriedener Junggeselle überhaupt denkbar? Nach einigen Tagen des Zögerns scheint er den Onkel in diesem Punkt sehr direkt angegangen zu haben, und da die Antwort seine schlimmsten Befürchtungen bestätigte, protokollierte er sie ausführlich im Tagebuch. Zur Illustration nämlich erzählte der Onkel von einer teuren Pension, in der er zwischen den immer gleichen vornehmen Gästen öfters zu Abend esse:
»Ich kenne schon alle gut, setze mich auf meinen Platz mit Gruss nach allen Seiten, rede weil ich in eigener Laune bin, sonst kein Wort, bis auf den Gruss, mit dem ich mich wieder verabschiede. Dann bin ich allein auf der Gasse und kann wirklich nicht einsehn, wozu dieser Abend gedient haben soll. Ich gehe nachhause und bedauere nicht geheiratet zu haben. Natürlich verwischt sich das wieder, sei es, dass ich es zuende denke, sei es dass sich die Gedanken verlaufen. Aber bei Gelegenheit kommt es wieder.« [91]  
    Zwei Wochen später, am 14.September, feierte Hermann Kafka seinen sechzigsten Geburtstag, und man kann sich vorstellen, wie an diesem Tag die Familie trabantengleich ihrem Zentrum huldigte und mit welchen Gefühlen sich der Sohn in den Chor der Gratulanten fügte. Seine eben aufkeimenden, ihn dunkel umtreibenden Ehegedanken müssen ihm geradezu nichtig erschienen sein angesichts der dröhnenden, {106} patriarchalen Präsenz des Vaters, dem er an diesem Tag schlechterdings nicht aus dem Weg gehen konnte. Um aber das Unglück voll zu machen, gab es schon am folgenden Tag eine weitere Familienfeier: die Verlobung der Schwester Valli, vorläufiger Höhepunkt einer seit Monaten sich hinziehenden Eheanbahnung nach bewährtem Muster. Angesichts dieses Treibens muss sich in Kafkas Kopf das Problem der familialen Existenz zu einem geradezu feindseligen Knäuel verdichtet haben. Er notiert Inzestgedanken – eine Seltenheit – sowie ein titelloses Gedicht, das deutlich belegt, dass die Initialzündung zu der Erzählung DAS URTEIL, die am folgenden Wochenende entstehen wird, insgeheim bereits erfolgt war:
Aus dem Grunde
der Ermattung
steigen wir
mit neuen Kräften
Dunkle Herren
welche warten
bis die Kinder
sich entkräften [92]  
    Am folgenden Abend flüchtet sich Kafka in die Wohnung der Familie Brod, obgleich Max gemeinsam mit Felix Weltsch verreist ist. Offenbar ist er enttäuscht, auch den

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