Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
das zitierte Gedicht deutet an, dass er sich ein solches Visavis nur als Kräftemessen mit einem finsteren, tückischen Gegner vorstellen konnte; der Übergang von der Phantasie zur Tat, zum ersten Werbebrief an Felice also, ließ die bereits geweckten Hunde nun endgültig von der Kette.
Kafka war sich der Gewalt dieser Dynamik, die ihn, wenn nicht in die Ehe, so doch in eine völlig veränderte innere Szenerie schleudern {115} würde, noch nicht bewusst. Den folgenden Sonntag verbrachte er in äußerst depressiver Stimmung – wieder einmal war lästige Verwandtschaft zu Besuch, Kafka zum small talk gänzlich unfähig –, und als er sich am Abend gegen 22 Uhr, als endlich Ruhe in der Wohnung einkehrte, an den Schreibtisch setzte und das Tagebuch aufschlug, hatte er alles andere im Sinn als die literarische ›Verarbeitung‹ dessen, was ihn umtrieb. Er wollte, wie er später an Felice schrieb, »einen Krieg beschreiben, ein junger Mann sollte aus seinem Fenster eine Menschenmenge über die Brücke herankommen sehn, dann aber drehte sich mir alles unter den Händen«, und im Laufe der Nacht wurde eine Erzählung daraus, in der jener junge Mann, eine sozial angepasste, doch charakterlich fragwürdige Existenz, vom eigenen Vater per Todesurteil aus dem Leben gefegt wird: DAS URTEIL.
»Diese Geschichte ›das Urteil‹ habe ich in der Nacht vom 22 zum 23 von 10 Uhr abends bis 6 Uhr früh in einem Zug geschrieben. Die vom Sitzen steif gewordenen Beine konnte ich kaum unter dem Schreibtisch hervorziehn. Die fürchterliche Anstrengung und Freude, wie sich die Geschichte vor mir entwickelte wie ich in einem Gewässer vorwärtskam. Mehrmals in dieser Nacht trug ich mein Gewicht auf dem Rücken. Wie alles gewagt werden kann, wie für alle, für die fremdesten Einfälle ein grosses Feuer bereitet ist, in dem sie vergehn und auferstehn. Wie es vor dem Fenster blau wurde. Ein Wagen fuhr. Zwei Männer über die Brücke giengen. Um 2 Uhr schaute ich zum letztenmal auf die Uhr. Wie das Dienstmädchen zum ersten Mal durchs Vorzimmer gieng, schrieb ich den letzten Satz nieder. Auslöschen der Lampe und Tageshelle. Die leichten Herzschmerzen. Die in der Mitte der Nacht vergehende Müdigkeit. Das zitternde Eintreten ins Zimmer der Schwestern. Vorlesung. Vorher das Sichstrecken vor dem Dienstmädchen und Sagen: ›Ich habe bis jetzt geschrieben.‹ Das Aussehn des unberührten Bettes, als sei es jetzt hereingetragen worden. Die bestätigte Überzeugung, dass ich mich mit meinem Romanschreiben in schändlichen Niederungen des Schreibens befinde. Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.« [93]
In welcher Euphorie sich Kafka an diesem Morgen befunden haben muss, kann man nicht nur daran ermessen, dass er erstmals detailliert die Umstände festhielt, unter denen ein Text entstanden war; vor allem, dass er – sonst verzweifelt unsicher gegenüber allem, was er zu Papier gebracht hatte – diese Erzählung sofort vorlas, beim ersten Tageslicht und offenbar sogar noch vor eigener gründlicher Lektüre, beweist, dass er sich diesmal seiner Sache völlig sicher war. Endlich {116} wusste er, worauf er gewartet hatte, und er feierte diesen Augenblick rückhaltlos, um nicht zu sagen: hemmungslos.
Man muss, um Kafkas Glück über diesen produktiven Schub recht zu ermessen, sich noch einmal vor Augen halten, wie lang der Anlauf gewesen war, welche unabsehbare Folge von Fehlversuchen vorangegangen war und welches unerhörte Beharrungsvermögen hier letztendlich belohnt wurde. Kafkas ›Frühwerk‹, von dem wir nur eine dürftige und zufällige Auswahl in Händen halten, bestand ja in Wahrheit aus Tausenden von Manuskriptseiten, die innerhalb von nahezu eineinhalb Jahrzehnten entstanden und im Kafkaschen Wohnzimmerofen wieder verschwunden waren: die Ernte der gesamten ersten Hälfte seiner literarisch produktiven Lebenszeit. Allein die erste Fassung des VERSCHOLLENEN war mittlerweile auf 200 große Heftseiten angeschwollen: die Arbeit mindestens eines Dreivierteljahres, die, wie er nun mit Bestimmtheit wusste, gleichfalls vergeblich gewesen war. Denn dass von nun an nichts mehr akzeptabel war, was hinter den mit dem URTEIL gesetzten ästhetischen Standard zurückfiel, dazu bedurfte es keines ausdrücklichen Entschlusses. Für Kafka war es einfach undenkbar, sich nach dieser Nacht mit dem bloßen Ausbessern unzulänglicher Fingerübungen zu
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