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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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unserer Existenz immer zu tun hat. Von daher die Häufigkeit von Paarbildungen, die aller Welt unverständlich, wenn nicht gar lächerlich erscheinen, nur den beiden Beteiligten nicht. Das berühmte Verlobungsfoto, auf dem Kafka scheinbar nur mit einer Hälfte des Gesichts lächelnd hinter seiner Braut steht, zeigt ein solches Paar. Die beiden ›passen‹ nicht zueinander, der Eindruck ist geradezu bezwingend. Und doch bedeutet dieses ›Nicht-Passen‹ zunächst nur: Der gemeinsame Grund, in dem dieses Paar ankert, ist verborgen. Vielleicht ihnen selbst, uns gewiss.
    Also besser keine Psychologie als schlechte Psychologie. Wer davon spricht, gerade Felices ›Leere‹ habe sie Kafka geeignet erscheinen lassen als die dringend benötigte Projektions- oder Einschreibfläche, als Spielfeld einer nur in seiner Phantasie sich verwirklichenden Beziehung, sitzt erstens einem fragwürdigen Klischee der Kafka-Forschung auf und vergisst zweitens, dass Kafka für Felice Bauer anfangs nicht weniger ›leer‹ war. Sie hatte nichts in Händen außer ein paar merkwürdig erregten und distanzlosen Briefen und musste ihrer Erinnerung mit Fotografien aufhelfen, während er immerhin über das »Material« – er selbst bezeichnet es so – eines ganzen Abends verfügte, {110} dessen Umrisse er in immer genaueren Konturen nachzeichnete. Dieses Anschauungsmaterial freilich muss ein ganzes Netz geheimer und geheimster Wünsche buchstäblich innerhalb von Minuten in Resonanz versetzt haben.
    Kafka sehnte sich nach Intimität, nach dauerhafter Vertrautheit, doch diese Vertrautheit schien ihm nur möglich mit einer Frau, die von den beiden neurotischen Urbildern des Weiblichen – Mutter und Hure – gleich weit entfernt war. ›Bemuttert‹ zu werden war angenehm, als Grundlage einer menschlichen Beziehung jedoch inakzeptabel; denn die Zuwendung der Mutter hatte ja per se nichts zu tun mit einem Verständnis des Wesens ihres Kindes und konnte sogar mit völliger Verkennung einhergehen. Welche entsetzliche Entfremdung davon selbst inmitten einer intakten Familie ausgehen kann, wusste Kafka, und er musste es nur wenige Wochen später erneut und mit bisher ungekannter Wucht erfahren. Andererseits freilich sollte sich in der ersehnten Vertrautheit die von der Mutter gewährte Geborgenheit auf neuer Stufe fortsetzen; Kafka wünschte sich keine ›Partnerin‹, sondern eine Frau, die ihn ›aufnahm‹, wie er das später gegenüber Milena Jesenská viel offener zu äußern wagte. Eine Mutter also doch, aber keine Mutter aus Instinkt, keine institutionalisierte Mutter, kein Mutter- und Familientier.
    Eine Frau, die ihre sexuellen Reize im Dienste des Nestbaus einsetzte, kam ebenso wenig in Frage. Jede Form von Koketterie war Kafka verhasst, nicht nur seiner notorischen Sexualangst wegen, sondern vor allem auch darum, weil er unfähig war, die von Freud so genannten »zärtlichen« und »sexuellen Strebungen« auf Dauer voneinander zu isolieren. Ein Angriff auf seine Sexualität war ein Angriff auf seine Person, während er umgekehrt bei den Prostituierten, die er aufgesucht hatte, nie davon absehen konnte, dass es sich um Frauen, um Menschen mit individuellen Zügen handelte und nicht bloß um Vertragspartnerinnen. Eine Abspaltung des Sexuellen, wie sie Brod mit großer Selbstverständlichkeit auch während der Ehe fortsetzte, wäre für Kafka nicht lebbar gewesen, auch nicht eine Abspaltung innerhalb der Ehe.
    Allein schon diese beiden Randbedingungen, die Ablehnung von Mütterlichkeit und Sexualität als institutionalisierten Triebkräften, schränkten die Zahl der Frauen, mit denen Kafka sich ein Zusammenleben hätte vorstellen können, beträchtlich ein. Ein in sich ruhendes {111} weibliches ›Wesen‹, das sich den Zumutungen der Familie und der geschlechtsspezifischen Dressur gelassen verweigerte und darüber hinaus noch die Kraft hatte, den Geliebten an der eigenen Souveränität teilhaben zu lassen – dass eine solche ›Traumfrau‹ zu Beginn dieses Jahrhunderts noch unverkennbar utopische Züge trug, dürfte mehr zu Kafkas Verzweiflung beigetragen haben als die von ihm immer wieder beklagte, doch zumeist diffus bleibende »Unfähigkeit zur Ehe«. Selbst weitgehend emanzipierte und ihren Lebensweg selbständig bahnende Frauen wie die von Kafka bewunderte linke Frauenrechtlerin Lily Braun bezahlten dafür mit emotionalen Panzerungen und – damit zusammenhängend – sentimentalen Zügen, die ein gemeinsames Leben selbst bei

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