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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Interesse unter akkulturierten Juden, zumal in Berlin, ein Indiz geistiger Unabhängigkeit war. Im Bewusstsein mochte ihm die Aussicht, mit Fräulein Bauer eine Reise ausgerechnet nach Palästina zu unternehmen, wie das langersehnte Aufstoßen eines Fensters erschienen sein; nachhaltiger und gleichsam in einer tieferen Schicht wirkte jedoch die Art und Weise, wie dieser Beschluss zustande kam, mit welch unaufgeregtem, entspanntem und doch verlässlichem Verfügen über die eigene Person.
    Es muss Kafka unheimlich zumute gewesen sein, wenn er an die erotische Konfusion von Weimar dachte, die doch erst wenige Wochen zurücklag. Was er dort wollte und suchte – er hätte es jetzt, nach dem Abend bei Brod, nicht mehr zu sagen gewusst. Es war wie ein Kinderspiel aus ferner Zeit, über dem man einst die Welt vergessen hatte und das jetzt in all seiner Nichtigkeit sich enthüllte. Hier, in Prag, galten ganz andere Regeln. Dass er keine sexuelle Anziehung verspürte – was ihm die Gegenwart junger Frauen häufig verleidete, weil sie ihn befangen machte –, beunruhigte ihn dabei wohl noch am wenigsten, denn es eröffnete ihm die innere Möglichkeit, weitgehend angstfrei eine nähere Beziehung überhaupt zu wollen .
    Dennoch darf man den Begriff der Askese, hinter dem sich Kafka später verschanzte, nicht als Leitstern seiner Passion missverstehen: Sein Begehren nach Intimität schloss körperliche Vertrautheit selbstverständlich ein – wenn er sich seines Körpers schämte, war ja jenes Begehren damit nicht aus der Welt –, doch gerade in dieser Hinsicht hatte er, wie sich zeigen sollte, eine schwierige Frau ›gewählt‹. Denn er hatte sie gewählt aufgrund von Eigenschaften – Geschlossenheit, Souveränität, Verantwortlichkeit, Lebenstüchtigkeit –, die sie partiell wieder hätte abstreifen müssen, um wirklicher Intimität Raum zu geben, einer Intimität, die auch Schwäche und Hingabe einschloss. Mit diesem Widerspruch würde Kafka leben müssen, ob er Felice Bauer nun idealisierte oder, wie viel später, als die Frau hinnahm, die sie war. Es war dies ein Teil jener Lektionen, die ihm noch bevorstanden und deren Ausmaße er im September 1912 nicht ahnen konnte.

    Er hatte den ersten Schritt getan, und nun hieß es warten. Was hatte er getan? Seine ersten Zeilen an die Berlinerin waren unverfänglich genug, {114} selbstverständlich hakten sie sich am bisher einzigen Verbindungspunkt fest, der »versprochenen« Palästinareise. Kafka schlug vernünftigerweise vor, diese Reise durch einen Briefwechsel vorzubereiten, versicherte aber, um der Sache jeden unnötigen Ernst zu nehmen, er sei kein besonders pünktlicher Briefschreiber und erwarte auch keine pünktlichen Antworten. Eine harmlose Notlüge, die er mit einigen konventionellen Scherzen garnierte – diplomatisch geschickt, ein wenig literarisch auch, im Ganzen aber die angezeigte Distanz noch wahrend. Damit war der Eröffnungszug getan, die Zugpflicht auf Fräulein Bauer abgewälzt, und wenn diese es ablehnen würde, mitzuspielen, so konnte sich Kafka wenigstens für diesmal den Vorwurf der Entschlussschwäche ersparen.
    So hätte es sein können, aber es kam anders. Denn längst waren hinter seinem Rücken Gefühle der Verlassenheit, der Verliebtheit, des Eingesperrtseins, Glücks- und Unglückserwartungen zu einer explosiven Mischung amalgamiert, die in immer tiefere psychische Schichten einsickerte und bereits an die empfindlichsten Zonen seiner Existenz rührte. Wir wissen nicht, welche Art von Beziehung zu Felice er tagträumte; doch der Abend mit ihr, der wie ein Film unzählige Male in ihm ablief, und die gehäuften Familienszenen, die ihm seine abhängige und doch völlig beziehungslose Position fast tagtäglich vor Augen führten, müssen das Gefühl unabweisbar gemacht haben, dass es diesmal kein Spiel war. Eine Entscheidung stand an, und allmählich dämmerte Kafka, dass dies vielleicht seine erste eigenständige Lebensentscheidung sein würde, eine Entscheidung also, die ihn nicht nur zu seiner Familie, sondern zur ganzen Welt in ein neues Verhältnis setzen würde; ein Akt der Emanzipation und damit eine Herausforderung aller ihn umgebenden Instanzen. Die Vorstellung, frei vor den Vater zu treten und ihm, mit dem er sonst kaum mehr als die notwendigsten Mitteilungen wechselte, zu verkünden, dass seine Adoleszenz hiermit beendet sei und er eine dem Vater gleichrangige Position einzunehmen gedenke, war für Kafka zutiefst angsterregend. Schon

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