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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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beiderseitig bestem Willen eher noch schwieriger machten.
    Und nun tauchte Felice Bauer in seinem Gesichtsfeld auf – in einer gänzlich unbedrohten und unbedrohlichen, weil außerfamilialen und gesellig-unerotischen Situation. Freilich war die 24-Jährige ihrer eigenen Familie noch keineswegs entwachsen, im Gegenteil: Die enge Bindung an ihre Mutter Anna scheint eine der ersten persönlichen Charakteristika gewesen zu sein, die sie gegenüber Kafka für mitteilenswert hielt. Selbst ihre Ausbildung zur Stenotypistin dürfte unmittelbar durch die Sorge um die Familie motiviert gewesen sein, denn sie steuerte einen Beruf an, der es ihr ermöglichte, die vier Geschwister baldmöglichst zu unterstützen. Auch finden sich in Kafkas Briefen zahlreiche Indizien dafür, dass sie den Binnenraum ihrer Familie in einer sehr identifikatorischen und resoluten Weise abschirmte. So war beispielsweise die Verlobung des einzigen Bruders Ferdinand (›Ferri‹) an Pfingsten 1913 ein Familienereignis, hinter dem die dringend notwendige Aussprache mit dem gleichzeitig in Berlin weilenden Kafka zurückstehen musste. Felice berichtete Kafka sogar Einzelheiten über die künftigen Schwiegereltern des Bruders – doch die katastrophale Wendung, die diese Geschichte schon bald darauf nehmen sollte, verschwieg sie ihm.
    Felice Bauer verkörperte einen neuen sozialen Typus: die Angestellte. Nüchtern, geradlinig, dem Realitätsprinzip verpflichtet, wechselte sie täglich zwischen dem Hitzepol der Familie und dem Kältepol des Büros, ohne dass diese Doppelfunktion ihre psychische Kompaktheit sichtbar bedroht hätte. Scheinbar reibungslos fügte sie sich in eine Berufswelt, in der mütterliche Überbesorgtheit ebenso wie weibchenhaftes Auftreten verpönt, weil kontraproduktiv waren. Geschicktes {112} Organisieren war verlangt, weiblicher Charme eine angenehme Zugabe, solange er die Arbeitsbeziehungen nicht sexualisierte. Damenhaftes, gar verklemmtes Etepetete war in einer Umgebung, in der die beiden Geschlechter wöchentlich fünfzig Stunden und mehr miteinander auskommen mussten, freilich ebenso wenig gefragt. Von den weiblichen Angestellten wurde ein ›natürliches‹, unkompliziertes Wesen verlangt, ein Wesen mithin, das auch so Unnatürliches zuwege brachte wie die willentliche Suspendierung des Erotischen im Dienste des Arbeitsprozesses. Die schnelle Karriere Felice Bauers sowie alle direkten und indirekten Zeugnisse, die wir über sie besitzen, deuten auf eine weitgehende Verinnerlichung jenes Sozialcharakters. Nur vermuten dürfen wir, dass es gerade ihre auffallend starke Verwurzelung in der Familie war, die das psychosoziale Avancement in einem von Männern beherrschten Berufsfeld erst ermöglichte und den damit einhergehenden Verschleiß – von dem Kafka bald erfahren sollte – in erträglichen Grenzen hielt.
    Diese ›gebremste‹ Weiblichkeit, gepaart mit einem scheinbar in sich ruhenden, unaffektierten Ernst verschaffte Kafkas latentem Begehren ein Ziel. Felices ›Tüchtigkeit‹ allein hätte indessen nicht genügt, ihn herauszufordern – tüchtig, bisweilen unerträglich tüchtig war schließlich auch seine Mutter –, hätte sich diese Eigenschaft nicht im Gewand einer gelassenen, Kafka aufs höchste erstaunenden Souveränität gegenüber kleinbürgerlichen Bedenklichkeiten aller Art präsentiert. Eine wesentliche Rolle spielte dabei zweifellos die Situation, in der sich Felice Bauer als reisender Gast präsentierte: Dieser Umstand ließ naturgemäß die Selbstsicherheit und Ungebundenheit als emanzipativen Gewinn des Angestelltendaseins besonders deutlich hervortreten, während das Moment der Konvention, des sozialen Rollenzwangs im Hintergrund verblieb. Daher Kafkas Begeisterung über Felices freien Umgang mit der Zeit (nächtliches Kofferpacken, Lesen bis vier Uhr morgens), ihre selbstverständliche Beanspruchung von Dienstleistungen (Frühstücken im Speisewagen), ihr gelassen-konzentriertes Aufnehmen von Informationen anstelle von Nahrung (das Betrachten der Fotos beim Essen) und ihre sichere Balance zwischen Höflichkeit und geradlinigem Urteil (die Bemerkung über Brods Roman). Dass Felice über eine literarische Grundbildung verfügte, nahm Kafka wohlwollend zur Kenntnis, war aber gewiss kein ausschlaggebender Faktor – eher schon ihr Interesse für den Zionismus, aber nicht etwa wegen {113} einer Gemeinsamkeit der ›Gesinnung‹, die für Kafkas soziale Beziehungen niemals entscheidend war, vielmehr weil dieses

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