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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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bringen – die Geschichte eines Untergangs wiederum, denn jener »Gustav Blenkelt«, eine ebenso windige wie großsprecherische Figur, sollte bereits mit 36 Jahren sein Leben beschließen. Viel mehr wissen wir nicht über ihn, denn Kafka hat diese Geschichte nach zwei unruhigen und sprachlich steril wirkenden Absätzen für immer liegen lassen.
    Ein kleiner Rückschlag, von dem er sich diesmal jedoch nicht beeindrucken ließ. Im Gegenteil schien Kafka plötzlich eine bisher nicht gekannte Entschlusskraft zuzufließen, die ihn drängte, die literarische Arbeit den Zufälligkeiten täglicher Stimmungen und Ereignisse möglichst zu entreißen. Er beschloss, eine rigide Zeitökonomie einzuführen, die ihm ermöglichen sollte, Nacht für Nacht ein paar Stunden in einigermaßen ausgeruhtem Zustand dem Schreiben zu widmen. Da sowohl an Schlaf wie an literarische Arbeit nur zu denken war, wenn alle übrigen Familienmitglieder entweder im Geschäft waren oder selbst schliefen, hatte Kafka keine Wahl: Er musste sich zu einer gleichsam antizyklischen Lebensweise entschließen, zu einem weiteren Schritt aus der Normalität und familialen Verbindlichkeit des Alltags:
    »Von 8 bis 2 oder 2 1/3 Bureau, bis 3 oder ½4 Mittagessen, von da ab Schlafen im Bett […] bis ½8, dann 10 Minuten Turnen, nackt bei offenem Fenster, dann eine Stunde Spazierengehn allein oder mit Max oder mit noch einem andern Freund, dann Nachtmahl innerhalb der Familie […] dann um ½11 (oft wird aber auch sogar ½12) Niedersetzen zum Schreiben und dabeibleiben je nach Kraft, Lust und Glück bis 1, 2, 3 Uhr, einmal auch schon bis 6 Uhr früh.« [97]  
    Nachdem man sich mit Mühe an die Ernährungsweise des Sohnes gewöhnt hatte, der wahrhaftig »innerhalb« und nicht etwa mit der Familie nachtmahlte, dürfte das Kopfschütteln allgemein gewesen sein angesichts des Halbtagsbeamten und Fabrikbesitzers, der sich gemächlich aus dem Bett erhob, wenn alle anderen von der Arbeit kamen. Doch Kafka zeigte die Sturheit derer, die sich schwer entschließen und daher nur unter stärkstem Druck von einem Entschluss wieder abrücken. Vorwürfe beeindruckten ihn tief, änderten aber nichts. »Gott sei Dank«, schrieb Brod wenig später an Felice Bauer, »ist Franz von einer erfreulichen Halsstarrigkeit und hält genau an dem fest, was für ihn heilsam ist.« [98]   Das musste er freilich bald relativieren, denn es zeigte sich, dass Kafka die Belastungen der neuen Lebensweise unterschätzt hatte. Vor allem der dringend notwendige Nachmittagsschlaf fiel häufig viel zu kurz aus, sodass er die Sonntage benötigte, um sein ständiges Schlafdefizit notdürftig auszugleichen.
    Fast gleichzeitig traf Kafka noch eine weitere folgenreiche Entscheidung: Er beschloss, den VERSCHOLLENEN, den er bereits als literarisch unzureichend abqualifiziert hatte, als Projekt noch keineswegs aufzugeben, sondern ganz neu anzupacken – ein deutliches Zeichen dafür, welche Kräfte er sich jetzt zutraute. Schon in einer der folgenden Nächte warf er sich in die Arbeit, und tatsächlich fand er erneut zu schöpferischer Konzentration und endlich auch zu jener im Gespräch mit Rudolf Steiner beschworenen und seit jeher schmerzlich vermissten »Ruhe der Begeisterung, wie sie dem Hellseher wahrscheinlich eigen ist«. Und was noch wichtiger war: Diese paradoxe, weil kontrollierte Begeisterung vermochte er auch über den Büroalltag hinweg zu retten; tage-, ja wochenlang verharrte er in einem Zustand beständiger, ebenso wacher wie empfindlicher Erregung. Als Brod und Weltsch am folgenden Sonntag, dem 29.September, von ihrer gemeinsamen Italienreise zurückkehrten, wurden sie am Bahnhof von einem geradezu überschäumenden Kafka empfangen, der nicht nur stolz über den nächtlichen Exzess anlässlich des URTEILS berichtete, sondern auch, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, über die Arbeit an dem noch in der Schwebe befindlichen Roman.
    »Kafka in Ekstase«, trug Brod in sein Tagebuch ein, »schreibt die Nächte durch. Ein Roman, der in Amerika spielt.« Zwei Tage später: {120} »Kafka in unglaublicher Ekstase.« Noch einen Tag später: »Kafka, der weiter sehr inspiriert ist. Ein Kapitel fertig. Ich bin glücklich darüber.« Diesen Notaten zufolge muss Kafka bereits am Abend des 1.Oktober den HEIZER, das erste Kapitel des VERSCHOLLENEN, abgeschlossen haben – ein in der Tat ekstatisches Arbeitstempo, wenn man bedenkt, dass DER HEIZER etwa zweieinhalbmal so lang ist wie DAS URTEIL, das ihn

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