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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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beschäftigen.
    Was ihn zunächst begeisterte, war der selbstvergessene, halluzinatorische und doch konzentrierte und kontrollierte mentale Zustand, den er bis zur Niederschrift des letzten Satzes hatte aufrechterhalten können. DAS URTEIL war im »Zusammenhang« entstanden; schon dies schien ihm ein wesentliches Indiz für die Geschlossenheit und Authentizität des Geschaffenen, und dass ihm an dieser nächtlichen Vision auch später keine Zweifel kamen, obwohl er sie nicht zu deuten vermochte, lag vor allem daran, dass sie ihm auf eine neue Stufe schöpferischer Intensität verholfen hatte. Dass sich jedoch, wie spätestens seit dem Vorliegen des Gesamtwerks augenfällig ist, auch formal, stilistisch und motivlich mit dem URTEIL ein unumkehrbarer Sprung vollzogen hatte, scheint dem Autor erst allmählich bewusst geworden zu sein, und zwar bezeichnenderweise beim Vorlesen , zu dem ihn diesmal niemand nötigen musste. Schon am 24.September las er die Geschichte einer kleinen Gesellschaft vor, die sich in der Wohnung Oskar Baums versammelt hatte – darunter wiederum Ottla und Valli –, und was ihn diesmal körperlich »öffnete«, war nicht die Wirkung des Schreibens, sondern die des Geschriebenen: »Gegen {117} Schluss fuhr mir meine Hand unregiert und wahrhaftig vor dem Gesicht herum. Ich hatte Tränen in den Augen. Die Zweifellosigkeit der Geschichte bestätigte sich.« [94]  
    Diese ästhetische Sprengkraft, dieses Maß an mühsam kontrollierter und dann doch souverän den Zuhörern mitgeteilter glücklicher Erregung hatte er bisher nur an fremden Texten erfahren; so zum Beispiel an Grillparzers DER ARME SPIELMANN, den er vier Tage vor der Begegnung mit Felice seiner Schwester Ottla vorgelesen hatte; »mit einer unmenschlichen Selbstverständlichkeit« sei es aus ihm hervorgebrochen, erinnerte er sich noch mehr als eineinhalb Jahre später an diese Ekstase. [95]   Nun aber schlug es ihm – ebenso vertraut und ebenso furchtbar fremd – aus einem eigenen Text entgegen, trieb ihm, dem stets beherrschten Beobachter, gar Tränen in die Augen. Nein, dies war kein Spiel mehr.
    Es war eine Eruption, die in der Weltliteratur ihresgleichen sucht: Mit einem Schlag, scheinbar geschichts- und voraussetzungslos, war der Kafka-Kosmos präsent, schon vollständig möbliert mit jenem ›kafkaesken‹ Inventar, das dem Werk eine unverwechselbare serielle Einheit aufprägt: die übermächtige und zugleich ›schmutzige‹ Vater-Instanz, die ausgehöhlte Rationalität der Perspektivfigur, die Überlagerung des Alltags durch juridische Strukturen, die Traumlogik der Handlung und nicht zuletzt der den Erwartungen und Hoffnungen des Helden stets entgegengerichtete Sog des Erzählflusses. Zu Recht hat Reinhard Baumgart angemerkt, dass im Vergleich hierzu die Miniaturen aus dem Band BETRACHTUNG wie eine »Prosa auf Probe« wirken, eine Prosa, die noch in ihrer Radikalität vorsichtig ist, die dem Kampf und der Katastrophe rechtzeitig ausweicht. [96]   In der Tat: Wenn wir jenen berühmten Satz aus Kafkas BRIEF AN DEN VATER wörtlich nehmen dürfen: »Mein Schreiben handelte von Dir«, dann ist dieses »Schreiben« fünfzehn Jahre lang seinem innersten Gegenstand ausgewichen, hat, im eigentlichen Sinne, sein Thema verfehlt. Dann freilich wäre die Erschütterung Kafkas plausibel: Denn erstmals hatte er mit dem URTEIL Thema, Figuration und Handlung eines Textes rückgekoppelt an den Anlass des Schreibens selbst und damit einen Kurzschluss erzeugt zwischen Literatur und Leben. Und die gleißende Helligkeit, die dieser Kurzschluss erzeugte, nannte er: Zweifellosigkeit.

    Am Morgen jenes 23.September fand Kafka nur allmählich ins Leben zurück, als erwachte er aus einer Ohnmacht. Dass er sich bei seinem Vorgesetzten ausgerechnet mit einem »kleinen Ohnmachtsanfall« entschuldigte, der aber »bestimmt ohne Bedeutung« sei, war einer jener übermütig-humoristischen Schlenker, zu denen er in Zeiten höchster Erregung bisweilen neigte. Er schlief ein paar Stunden, genehmigte sich einen dienstfreien Tag, und nach dem gewohnt späten Nachtmahl nahm er wieder das Tagebuch vor. Es hat etwas Anrührendes, dass Kafka allen Ernstes glaubte, nur vierundzwanzig Stunden nach dem URTEIL eine weitere Erzählung womöglich auf die gleiche Weise zustande zu bringen; er wusste noch nicht mit den neu gewonnenen Kräften umzugehen, und trotz Erregung und Übermüdung versuchte er, die seit längerem geplante Geschichte eines Junggesellen zu Papier zu

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