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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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eines Selbstbewusstseins, das aller Schuld und Angst vielleicht eines Tages ein Ende bereiten würde?
    Nachdem an jenem Abend auch der Vater nach Hause gekommen war, verschwand Kafka, ohne sich definitiv erklärt zu haben, bei erster Gelegenheit in seinem Zimmer. Sein Manuskript, sein imaginiertes Amerika allein konnte ihn jetzt retten – jener innere Kontinent, auf dem, wie ihm jetzt schien, sein eigentliches Leben sich vollzog. Noch in der Nacht zuvor hatte er den Roman glückliche zehn Seiten weitergetrieben – »ich hätte die Nacht durchschreiben können und den Tag und die Nacht und den Tag und schließlich wegfliegen« –, und nicht das Versiegen der Bilder, sondern allein Müdigkeit hatte ihn das dritte Kapitel beiseite legen lassen. Glücklicherweise befand sich die szenische Entwicklung an einem Punkt, an dem der Wiedereinstieg besonders leicht schien: Eben nämlich irrte der unschuldige Karl durch die finsteren Gänge eines amerikanischen Landhauses, eine Episode, deren Richtung unzweideutig war und deren Zielpunkt Kafka klar vor Augen gestanden haben muss. Doch diesmal täuschte er sich. Das war {134} nicht mehr der bloße Schatten der Familie, den abzuschütteln ihm neuerdings wie im Fluge gelang, das war eine förmliche Kriegserklärung, ein physisches Eindringen, der Versuch, ihn mit vereinten Kräften aus jenem imaginierten Territorium zu vertreiben.
    Kafka schrieb eine Seite; dann legte er die Feder aus der Hand, stand auf, trat ans Fenster und blickte auf die vom Nebel umflossenen elek trischen Lampen der Cechbrücke. Die hellsichtige Verzweiflung, die ihn in diesem Augenblick überflutete, schilderte er noch in derselben Nacht in einem langen Brief an Brod:
»[Ich sah] vollkommen klar ein, dass es für mich jetzt nur zwei Möglichkeiten gab, entweder nach dem allgemeinen Schlafengehn aus dem Fenster zu springen oder in den nächsten 14 Tagen täglich in die Fabrik und in das Bureau des Schwagers zu gehn. Das erstere gab mir die Möglichkeit, alle Verantwortung sowohl für das gestörte Schreiben als auch für die verlassene Fabrik abzuwerfen, das zweite unterbrach mein Schreiben unbedingt – ich kann mir nicht den Schlaf von 14 Nächten einfach aus den Augen wischen – und liess mir, wenn ich genug Kraft des Willens und der Hoffnung hatte, die Aussicht, in 14 Tagen möglicherweise dort anzusetzen, wo ich heute aufgehört habe.
Ich bin also nicht heruntergesprungen und auch die Lockungen, diesen Brief zu einem Abschiedsbrief zu machen (meine Eingebungen für ihn gehn in anderer Richtung) sind nicht sehr stark. Ich bin lange am Fenster gestanden und habe mich gegen die Scheibe gedrückt und es hätte mir öfters gepasst, den Mauteinnehmer auf der Brücke durch meinen Sturz aufzuschrecken. Aber ich habe mich doch die ganze Zeit über zu fest gefühlt, als dass mir der Entschluss, mich auf dem Pflaster zu zerschlagen, in die richtige entscheidende Tiefe hätte dringen können. Es schien mir auch, dass das am Lebenbleiben mein Schreiben – selbst wenn man nur, nur vom Unterbrechen spricht – weniger unterbricht, als der Tod, und dass ich zwischen dem Anfang des Romans und seiner Fortsetzung in 14 Tagen mich irgendwie gerade in der Fabrik, gerade gegenüber meinen zufriedengestellten Eltern im innersten meines Romans bewegen und darin leben werde.
Ich lege Dir mein liebster Max das Ganze nicht vielleicht zur Beurteilung vor, denn darüber kannst Du ja kein Urteil haben, aber da ich fest entschlossen war, ohne Abschiedsbrief hinunterzuspringen – vor dem Ende darf man doch müde sein – so wollte ich, da ich wieder als Bewohner in mein Zimmer zurücktreten soll, an Dich dafür einen langen Wiedersehensbrief schreiben und da ist er.« [106]  
    Man muss, um die Wirkung dieses Briefs auf Brod zu ermessen, die dichtgedrängte Chronologie der Ereignisse sich vor Augen führen, die ekstatische Beschleunigung von Kafkas Leben, deren staunender Zeuge {135} Brod seit einigen Wochen war. Als dieser Brief am Vormittag des 8.Oktober in seinem Büro in der Prager Hauptpost einging, waren noch nicht einmal zwei Tage vergangen, seit Kafka ihm zum ersten Mal DAS URTEIL und den HEIZER vorgelesen hatte. Seit wenigen Stunden erst hatte er eine konkrete und realistische Vorstellung davon, wozu Kafka literarisch imstande war, und wohl erst jetzt begriff er, dass es nicht das wohlbekannte vorsorgliche Understatement war, wenn Kafka die hingetupften Sätze der BETRACHTUNG zu bloßen Exerzitien erklärte.
    Überdies

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