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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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stand Brod noch unter dem Schock von Kafkas neuer thematischer Radikalität. Denn das Porträt eines jungen Mannes, dessen scheinbar arrivierte Existenz innerhalb von Minuten in sich zusammenstürzt und der auf väterlichen Befehl Selbstmord begeht, muss auch Brod, der den Sicherheitsabstand zwischen Literatur und Leben sonst strikt zu wahren wusste, ein subkutanes Grauen eingeflößt haben, das selbst er in ästhetischen Genuss nicht vollständig aufzulösen vermochte. Und noch war ihm jenes Grauen ganz gegenwärtig, da drohte Kafka, das tödliche Szenario wahr zu machen, sich genau wie jener windige Georg Bendemann in den Tod zu stürzen. Konnte das denn sein voller Ernst sein, schreibt ein wahrhaft Lebensmüder solche Briefe, war hier nicht vielleicht doch wieder ein wenig Literatur im Spiel? Falls sich Brod – womöglich verführt von Kafkas kalt funkelnder Diktion – für den Augenblick darüber getäuscht haben sollte, so belehrte ihn spätestens das Postskriptum, das Kafka seinem »Wiedersehensbrief« am frühen Morgen anfügte, eines Besseren: »ich hasse sie alle der Reihe nach und denke, ich werde in diesen 14 Tagen kaum die Grussworte für sie fertig bringen. Aber Hass – und das richtet sich wieder gegen mich – gehört doch mehr ausserhalb des Fensters, als ruhig schlafend im Bett. Ich bin weit weniger sicher als in der Nacht.«
    Das war eindeutig. Selbst wenn Brod die Dynamik der Hassliebe, in der Kafka mehr denn je gefangen war, in ihrer Gewaltsamkeit noch immer unterschätzte – immerhin wusste er nun, dass man Kafka zum »Aufgeben« seiner Depressionen nicht einfach überreden konnte –, so muss ihn dieser seltene Ausbruch offener Aggression doch aufs höchste alarmiert haben. Der stets so rücksichtsvolle und selbstbeherrschte Kafka hatte sich nicht mehr unter Kontrolle, er schien gar nicht daran zu denken, welch »kaltes Entsetzen« (so Brod in seinen Erinnerungen) er mit einem derartigen Brief auslösen würde, und dies {136} war nun allerdings ein untrügliches Indiz dafür, dass er äußerer Hilfe bedurfte.
    Brod reagierte rasch und entschlossen, und er nutzte die einzige Möglichkeit der Intervention, die ihm mit den bürgerlichen Verkehrsregeln und mit seinem von jeher distanzierten Verhältnis zu Kafkas Familie noch halbwegs vereinbar schien. Mit dem von Ressentiments beherrschten Vater, der ihn längst für »meschugge« erklärt hatte, war nicht zu reden, das verstand sich von selbst. Die Schwestern zu mobilisieren war nutzlos, denn sobald es um die ernsten Dinge des Lebens, also um Geld ging, zählten deren Stimmen kaum mehr als die von Kindern. Blieb die Mutter, vergleichsweise ein Hort praktischen Menschenverstands, mit der Brod allerdings auch nicht im besten Einvernehmen stand – was kein Wunder war, verbrachte doch der angeblich so überlastete Sohn weitaus mehr Zeit bei den Brods als mit der eigenen Familie.
    Doch für ein Abwägen des taktischen Für und Wider blieb Brod keine Zeit. In einem acht Seiten langen Brief – dem er möglicherweise sogar Auszüge aus Kafkas Schreiben beilegte – beschwor er Julie Kafka, vor der geheimen Verzweiflung ihres Sohns und vor dessen wahren Bedürfnissen endlich die Augen zu öffnen. Dass er es dabei an drastischen Worten nicht fehlen ließ, ist gewiss (gegenüber Felice Bauer sprach er sogar von »ganz rücksichtslosem Eingreifen«). [107]   Die überlieferten Sätze aus Julie Kafkas Antwortbrief lassen jedoch vermuten, dass Brod nicht allein auf die Schockwirkung seiner Hiobsbotschaft vertraute, sondern geschickt an die Gefühle der Mutter appellierte:
»Ihren werten Brief habe soeben erhalten und Sie werden an meiner zitternden Schrift erkennen, wie mich derselbe aufgeregt hat. Ich, die ich mein Herzblut für jedes meiner Kinder hergeben würde, um sie alle glücklich zu machen, stehe hier machtlos. Aber ich werde trotzdem alles tun, um meinen Sohn glücklich zu sehen. […] Ich werde noch heute mit Franz sprechen, ohne daß ich von Ihrem Brief Erwähnung mache, daß er morgen nicht mehr in die Fabrik gehen muß. Hoffentlich wird er mir beistimmen und sich beruhigen. Ich bitte auch Sie, geehrter Herr Doktor, ihn zu beruhigen und danke Ihnen vielmals für Ihre Liebe zum Franz.«
    Karge Zeilen, die doch erkennen lassen, unter welchen Druck Julie Kafka geraten war. Bezeichnend aber auch, dass sie, die in diesem Augenblick die Ferne des eigenen Sohns zwar nicht verstanden, aber doch intensiv gefühlt haben muss, gar nicht daran dachte,

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