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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Erzählung nicht in seinem eigenen kleinbürgerlichen Milieu, sondern {222} etwa in einer bürgerlich-intellektuellen oder einer aristokratischen Umgebung angesiedelt: Unglaubwürdig und unmöglich würde diese Geschichte, obwohl sie doch per se von etwas Unmöglichem handelt. Die Folgerung daraus ist paradox, aber unausweichlich: Was sich in der VERWANDLUNG abspielt, erscheint uns innerhalb einer kleinbürgerlichen Familie eher möglich als woanders. Und das wird ein japanischer Leser, der vergleichbare, wenn auch nicht gleiche soziale Differenzierungen kennt, kaum anders empfinden als ein europäischer. Fast scheint es, als sei ›Kleinbürgerlichkeit‹ ein Zustand, den nicht einzelne Kulturen, sondern die Weltgeschichte selber hervorgebracht hat.
    Auch die allererste Wirkung, die den unvorbereiteten Leser der VERWANDLUNG trifft, ist universell: Es ist die des Horrors. Ein Insekt von der Größe eines Kindes ist eine grässliche Vorstellung, und Kafka hat innerhalb seines erzählerischen Rahmens kaum eine Möglichkeit ausgelassen, diesen Schock noch zu intensivieren. Wenn er den Käfer über die Wände und an der Decke kriechen lässt, so geschieht das keinesfalls nur, um die Entfernung Gregors von seinem menschlichen Vorleben zu demonstrieren, sondern vor allem auch, um im Leser das Grauen wach zu halten. Demselben Zweck dienen die beharrlich wiederkehrenden körperlichen Details, die Ekel erregen und den Leser beständig daran hindern, sein Grauen irgendwie zu sublimieren und etwa DIE VERWANDLUNG als die Geschichte einer sublimen seelischen Katastrophe zu genießen. Kein Wunder, dass selbst Kafka in Augenblicken der Distanz sein Werk als »ausnehmend ekelhaft« empfand, noch ehe es vollendet war. [183]  
    Horror ist ein triviales Mittel der Phantastik. E. T. A. Hoffmann und Poe haben den Horror literaturfähig gemacht, in Kafkas Umfeld spielten Alfred Kubin (DIE ANDERE SEITE, 1908) und Gustav Meyrink (DER GOLEM, 1915) mit ähnlichen Effekten. Dennoch käme niemand auf den Gedanken, etwa Kafka, Kubin und Meyrink unter dem Titel einer neuen, österreichisch-ungarischen Phantastik zusammenzuführen. Das verbietet vor allem Kafkas Sprache, die in immer gleicher Entfernung zum Geschehen bleibt, die – ohne je angestrengt oder manieriert zu wirken – auch für den äußerlichsten Schrecken stets den schlichtesten Ausdruck findet. Überdies spielen Momente des Grässlichen in Kafkas Gesamtwerk eine bei weitem bescheidenere Rolle, als dessen populäres Image unter Nichtlesern vermuten lässt – {223} allein die STRAFKOLONIE wird nochmals extensiv auf dieses Werkzeug zurückgreifen.
    Hat sich der Leser mit dem körperlichen Grauen der »Verwandlung« arrangiert, so öffnet sich ihm eine tiefere Schicht, in welcher der Schrecken die Farbe des Tragischen annimmt. In einem entstellten Körper gefangen zu sein, gehört gewiss zu den tiefsten und ältesten Albträumen der Menschheit: ein Schicksal, so unwiderruflich wie der Tod, doch ohne dessen Trost. Die Literatur hat sich dieses Topos gern und häufig angenommen – wahrscheinlich, weil er sich mit dem Motiv der tragischen, unrealisierbaren Liebe so effektvoll verbinden lässt. Wenn Gregor trotz seines grauenvollen Äußeren vom zärtlichen Beisammensein mit seiner Schwester träumt, so leuchtet hier das bekannte Motiv aus dem Märchen LA BELLE ET LA BÊTE auf: der männliche Geist in einer scheußlichen Hülle, auf ewig dazu verdammt, das Weibliche nur aus der Ferne zu verehren. Victor Hugos Glöckner Quasimodo (in NOTRE-DAME DE PARIS) und Leroux’ FANTÔME DE L'OPÉRA (der Roman entstand nur zwei Jahre vor der VERWANDLUNG) gehören zweifellos zu Gregors weitläufiger Verwandtschaft.
    Diese Figuren freilich, die mittlerweile längst zum Inventar der Popkultur gehören, kann man sich an Gregors Seite nur schwer vorstellen. Denn dessen Fatum besteht ja nicht in der schrecklichen Verwandlung allein – das wäre ein dürftiger Stoff für eine Erzählung –, sondern vielmehr und vor allem darin, dass er gar nicht wirklich erfasst, was ihm geschieht. Er denkt und handelt wie ein unheilbar erkranktes Kind, dem der Sinn des Wortes ›unheilbar‹ verschlossen bleibt. Und er hält mit kindlicher Treue an Beziehungen fest, die sich jetzt, da sie erstmals auf eine wirkliche Probe gestellt werden, als fadenscheinig erweisen. Ohne diesen dummen Zwischenfall wäre für ihn alles in schönster Ordnung, und selbst jetzt, da es geschehen ist, versucht er, getreu der

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