Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Ungezieferphantasie der VERWANDLUNG verkörperte, war ja schon ein wenig älter, es kam endgültig zum Ausbruch in dem Augenblick, da Felice ihn zum ersten Mal zurechtwies, seine Äußerungen für »fremd« erklärte und die Illusion der Zugehörigkeit und damit alle symbiotischen Träumereien nachhaltig zerstörte. Kafka rechnete noch einmal zurück, nahm vielleicht gar den Kalender zur Hand: Genau 26 Tage waren seit jenem Brief vergangen.
Man erlebt hier Kafka im Widerstreit zwischen zwei Impulsen: dem Wunsch einerseits, die Überlagerung von Leben und Literatur bewusst und getreu abzubilden; dem literarischen Formgesetz andererseits, das unmotivierte und überständige Details verbietet. Die ästhetische Forderung behielt die Oberhand, wie fast stets in seinem Werk. Aber jene Überlagerung, jene wechselseitige Verdichtung von Phantasie und Wirklichkeit blieb ein mächtiger Antrieb, und weder wollte Kafka noch konnte er das, was ihm aktuell geschah, säuberlich unterscheiden von dem, was er erdachte. »Sein letzter Blick streifte die Mutter«, heißt es an entscheidender Stelle in der VERWANDLUNG, wenige Stunden vor Gregors Tod. Die Fehlleistung, die Kafka hier unterläuft, ist geradezu spektakulär: »Sein letzter Brief … « beginnt er zunächst den Satz, um sogleich – und wahrscheinlich erschrocken lächelnd – wieder zurückzufinden aus der Wirklichkeit in die Literatur.
Für Kafkas nächste Umgebung, vor allem aber für Ottla und für Max Brod, war natürlich der Zusammenhang der literarischen Phantasie mit den tatsächlichen Lebensumständen mit Händen zu greifen. Schon anlässlich der Erzählung DAS URTEIL war Ottla aufgefallen, die dort beschriebene Wohnung sei der eigenen verdächtig ähnlich. Kafka bestritt das energisch: »Da müsste ja der Vater im Kloset wohnen.« (Womit er natürlich, psychoanalytisch gesprochen, die schönste Bestätigung lieferte, denn schließlich geht es im URTEIL um einen Vater, {221} der vorzeitig abgeschrieben wird.) Die Nähe zur Wirklichkeit zu leugnen, war nun im Fall der VERWANDLUNG weitaus schwieriger, und gegenüber Gustav Janouch soll Kafka Jahre später sogar zugegeben haben, es handele sich um eine Erzählung »über die Wanzen der eigenen Familie«, mit der er sich eine »Indiskretion« geleistet habe. [181] Wie sehr Kafka in die Identifikation mit einem als durchaus real erlebten Szenario verstrickt war, belegt eindrucksvoll eine Begegnung, an die sich der Prager Gymnasiallehrer Friedrich Thieberger erinnerte, Kafkas späterer Hebräischlehrer. Was er berichtet, kann sich frühestens nach Veröffentlichung der VERWANDLUNG abgespielt haben, vielleicht Ende 1915 – und doch scheint Kafka noch immer nicht ganz zurückgekehrt in die Welt der Lebenden:
»Eines Abends, als ich mit meinem Vater gerade vor dem geschlossenen Haustor stand, kam Kafka mit meinen beiden Schwestern, die er nach Hause begleitete. Mein Vater hatte einige Tage vorher die ›Verwandlung‹ gelesen, und wiewohl sich Kafka in ein abweisendes Lächeln hüllte, wenn man von seinen Arbeiten sprach, ließ er sich von meinem Vater einige Worte über diese Verwandlung eines Menschen in einen Käfer gefallen. Dann wich Kafka einen Schritt zurück und sagte mit einem erschreckenden Ernst und einem Kopfschütteln, als ob es sich um eine wirkliche Begebenheit gehandelt hätte: ›Das war aber auch eine furchtbare Sache.‹« [182]
DIE VERWANDLUNG birgt noch zahlreiche weitere Rätsel, deren Aufklärung allein aus genauester Kenntnis von Kafkas Leben möglich ist, und vielleicht hat der Autor noch einige autobiographische Mystifikationen darin versteckt, deren Schlüssel für immer verloren ist. Es wäre zu verschmerzen. Denn das tiefste Geheimnis auch dieser Erzählung ist gar nicht ihr autobiographischer Subtext, sondern, im Gegenteil, ihre glatt polierte Oberfläche. DIE VERWANDLUNG bedarf keiner stützenden Kommentare, sie wirkt und überzeugt ganz aus sich selbst, scheint in sich geschlossen, ja vollkommen. In den Kanon der Weltliteratur wäre sie zweifellos auch dann aufgenommen worden, wenn wir über den Autor überhaupt nichts wüssten, und ihre immense Wirkung auch über hohe Kulturbarrieren hinweg beweist die Autonomie dieses Textes, der längst seine eigene Geschichte hat.
Überdauert also DIE VERWANDLUNG als universelles Traumgebilde, als kollektive Phantasie und ganz und gar unabhängig von der Wirklichkeit? Gewiss nicht. Man stelle sich nur vor, Kafka hätte den plot der
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