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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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kleinbürgerlichen Maxime ›Es wird schon wieder werden‹, nur ja keinen negativen, das heißt wahren Gedanken aufkommen zu lassen. Er begreift nicht . Und wenn es auf den ersten Seiten noch erheiternd wirkt, dass Gregor sich einredet, seine neue Gestalt sei eine vorübergehende Folge von Übermüdung, so muss der Leser bald konstatieren, dass dieser ›Held‹ nicht wächst an dem, was ihm widerfährt, dass sein Unglück zu groß ist für den engen geistigen und emotionalen Horizont, in dem sein Leben beschlossen ist.
    In einer Vorlesung über den amerikanischen Erzähler Nathaniel Hawthorne hat Borges die Auffassung vertreten, dessen short story WAKEFIELD aus dem Jahr 1835 deute voraus auf die Welt Kafkas – und zwar nicht etwa wegen der Absurdität der Handlung (ein Mann verlässt ohne erkennbares Motiv seine Ehefrau, lebt zwanzig Jahre lang unerkannt in der Nachbarschaft und kehrt ebenso unvermittelt zurück), sondern vielmehr wegen der »tiefen Mittelmäßigkeit des Helden, die mit der Größe seiner Verdammnis kontrastiert« [184]   . Diese Formulierung trifft genau den Kern der VERWANDLUNG und definiert deren Modernität. Sie markiert zugleich den radikalen Schritt, der Kafka über den VERSCHOLLENEN hinausführte: Während der junge Karl Roßmann, anfangs noch gänzlich naiv, eine gewisse Entwicklungsfähigkeit und sogar Gewitztheit zeigt, die dem Leser die Identifikation erleichtert, ist Gregor Samsa eine von allen Seiten eng umgrenzte, geknebelte Existenz: ein gesichtsloser Mensch aus dem Heer der Angestellten (man kann sich ihn vor der Verwandlung gar nicht vorstellen), unterwürfig gegenüber Vorgesetzten und Eltern, beruflich erfolglos und ohne Perspektive, mit bescheidenen Hobbys, von seichter Emotionalität und halb erstickten sexuellen Wünschen, die ins Masochistische spielen. Einer, der mit Freuden die Schulden des Vaters abbezahlt und der, nachdem man ihn mit einem Fußtritt hinausbefördert hat, selbst diesen Fußtritt noch für durchaus vernünftig hält. Am Ende stirbt er »genug friedlich und mit allen ausgesöhnt« [185]   , sein Kadaver wird mit dem übrigen Kehricht »weggeschafft«, und dass sich seine Nächsten darüber einer fast ungetrübten Erleichterung hingeben, würde er gewiss gutheißen.
    Erleichterung verspürt auch der Leser. Er muss sich sagen, dass diese Existenz, die ihm Mitleid, aber nicht Sympathie abnötigt, eigentlich überzählig ist und es vielleicht immer schon war. Das Ende der VERWANDLUNG manövriert den Leser offenbar ganz bewusst in eine Haltung, die er in der Realität als unmenschlich und asozial ablehnen müsste, und zweifellos haben bereits die zeitgenössischen Leser (die noch nicht wussten, dass Menschen tatsächlich zu Kehricht werden können) diese moralische Verwerfung schmerzvoll erfahren. Kafka dürfte erstaunt, jedoch kaum erfreut gewesen sein, als er im Juni 1916 das Prager Tagblatt aufschlug und dort DIE RÜCKVERWANDLUNG DES GREGOR SAMSA entdeckte, einen knappen, sprachlich recht unbeholfenen Prosatext über die Rückkehr seines Helden von der Müllhalde {225} in die menschliche Gemeinschaft. [186]   Da hatte offenbar jemand die widersprüchlichen, beklemmenden Gefühle nicht ertragen, die das Ende eines so mediokren Menschen begleiten, und hatte ohne jede Rücksicht auf literarische Glaubwürdigkeit dieses Ende einfach storniert. Kafka kannte den Autor: Er hieß Karl Müller und veröffentlichte unter dem Pseudonym Karl Brand, ein junger expressionistischer Dichter, der drüben auf der Prager Kleinseite in ärmsten Verhältnissen lebte. Ob Kafka noch Gelegenheit hatte, ihn über DIE VERWANDLUNG aufzuklären, wissen wir nicht, doch es ist kaum wahrscheinlich. Denn Brand war schwer tuberkulosekrank, vermochte schon kaum mehr die Wohnung zu verlassen und starb wenige Monate später, im Alter von 22 Jahren.

    Kafka scheint an jenem trüben Novembermorgen, als der Einfall zur VERWANDLUNG ihn ergriff und über Stunden nicht mehr losließ, kein Wort notiert zu haben. Er verließ sich auf sein Gedächtnis und tat, was sein Held sich leider versagen musste: Er blieb im Bett. Und hier wollte er ausharren, bis Ottla Post aus Berlin meldete. Ausgerechnet heute – es blieb ihm nichts erspart – wurde der in Auftrag gegebene Rosenstrauß in die Wohnung der Bauers geliefert, zusammen mit einem Briefchen ohne Anrede und ohne Unterschrift. Er hatte klug sein wollen, hatte sowohl das »Du« als auch das »Sie« vermieden, ehe sie nicht für eines von beiden

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